Wachstumszwickmühle
Teil 2: Die Energierevolution: Teil 1 der Serie beschäftigte sich mit unserem Wirtschaftssystem, das auf stetigsteigenden Konsum aufbaut, und dem damit zusammenhängenden Zwiespalt: Einerseits benötigen wir Wirtschaftswachstum, um unsere Lebensqualität zu erhalten. Andererseits sind die dazu notwendigen Ressourcen begrenzt und die Folgen des Wachstums für Umwelt und Klima langfristig unberechenbar. Wir befinden uns sozusagen in einer Wachstumszwickmühle, müssen unseren Lebensstil von grundauf verändern, um unsere Lebensgrundlage, die Erde, langfristig nicht zu zerstören. Teil 2 der Serie beschäftigt sich mit der künftigen Energieversorgung und zeigt, dass eine grundsätzliche Umstellung eine wesentliche Voraussetzung zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum ist.
Energiewirtschaft am Scheideweg
Die fossile Energiewirtschaft steht am Scheitelpunkt: Brennstoff wird weltweit knapp. Doch es gibt Grund zur Hoffnung, denn gleichzeitig wachsen die erneuerbaren Energien rasanter, als selbst Optimisten vorherzusagen wagten. Bis zum Jahr 2030 erwartet die UNO, dass die Weltbevölkerung um ein Viertel auf über acht Milliarden wächst. Ökonomen, etwa die der Weltbank, prognostizieren nochmals eine Verdopplung der Wirtschaftsleistung. Als Folge skizziert die Internationale Energieagentur IEA eine Steigerung des Energieverbrauchs um bis zu 45 Prozent in den nächsten 20 Jahren.
Ziel: Kohlendioxidsenkung um 85%
Trotz dieser Steigerung des Energiebedarfs möchte die Weltgemeinschaft zum Schutz des Erdklimas die jährlichen Kohlendioxid-Emissionen bis 2050 weltweit um 85 Prozent senken.
Um dieses Ziel zu erreichen, müsste nicht nur der heutige Energiemix vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt, sondern auch der zusätzliche Verbrauch von CO2-freien Energieträgern gedeckt werden. Der heutige Verbrauch von Endenergie basiert zu rund 85 Prozent auf nicht regenerativen Quellen, wobei Erdöl ein Drittel, Kohle gut ein Viertel und Erdgas knapp über ein Fünftel decken. Mit nur zwei Prozent zeigt sich die Atomkraft als Scheinriese, der zwar in der öffentlichen Diskussion herausragt, für die weltweite Energieversorgung jedoch heute wie auch in Zukunft keine tragende Rolle spielt.
Heute wird viermal mehr Öl verbraucht, als neu gefunden. Die weltweite Erdölförderung dürfte sich bis 2030 halbieren.
Doch nicht allein der Klimaschutz, sondern vor allem die Verfügbarkeit der fossilen Rohstoffe wird dem Energieverbrauch Grenzen setzen. Die Frage „Wie lange reicht das Öl?“ führt in die Irre, weil die Quellen nicht stetig sprudeln und plötzlich von einem Tag auf den anderen versiegen. Die Frage muss lauten: Welche Menge ist zu welcher Zeit verfügbar? Und wie steht diese Menge im Verhältnis zur Nachfrage?
Wissenschaftler haben sich im Auftrag der Energy Watch Group (EWG) mit die- sen Fragen intensiv beschäftigt. Die Antworten finden Sie in einer Artikelserie hier in der SONNENENERGIE – der Teil 2 ist in dieser Ausgabe auf den Seiten 16 bis 19 zu lesen. Dabei geht man von der Tatsache aus, dass zunächst die ergiebigsten und am einfachsten erschließbaren, also die billigsten Quellen angezapft werden. Nachdem die Förderung ihren Höhepunkt erreicht hat, nimmt diese zügig ab. Auch die Erschließung immer kleinerer Reserven könnte diesen Rückgang nicht aufhalten.
Dieses Prinzip gilt für die weltweite Ölförderung, weil die Gesamtmenge des Erdöls in der Erdkruste aus geologischen Gründen begrenzt ist und die Vorkommen weitgehend bekannt sind. Und es gilt auch für andere endliche Rohstoffe wie Erdgas, Kohle und Uran. Dennoch ignorieren regierungs- und unternehmensnahe Analysen wie die Studie „Energierohstoffe 2009“ der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR)die Fakten. Genaueres können Sie in der Artikelserie „Vom Überfluss zur Knappheit“ von Herrn Seltmann in dieser Ausgabe der SONNENENERGIE.
Schnelle Energierevolution nötig
Fasst man die Analysen zusammen, stehen wir in den nächsten 10 bis 15 Jahren vor dem Scheitelpunkt der konventionellen Energieversorgung. Erstmals in der modernen Industriegeschichte reichen diese Energieträger nicht mehr für ein Wirtschaftswachstum aus, das unser Finanzsystem stabilisiert. Gleichzeitig befinden sich die Erneuerbaren erst am Beginn ihres exponentiellen Wachstumsprozesses. Sie könnten die entstehende Energielücke nur rechtzeitig schließen, wenn ihr Wachstum über alle bisherigen Szenarien hinaus beschleunigt wird. Dies könnte sogar eintreffen.
Wachstum der Erneuerbaren übertrifft alle Erwartungen
Der Vorteil liegt dabei auf der Hand, denn der Ausbau der Energiegewinnung aus Wind, Sonne, Biomasse und Erdwärme kann unbegrenzt unabhängig von Lagerstätten erfolgen. Bei den Erneuerbaren entscheiden nur Umfang und Wachstum der Investitionen in die Anlagen über das Ausbautempo.
Laut dem schweizer Energiewissenschaftler Rudolf Rechsteiner hat u.a. die Entwicklung der Windenergie bislang alle offiziellen Vorhersagen weit übertroffen. Schreibt man das weltweite Wachstum der Windenergie und der Stromnachfrage fort, wird ab dem Jahr 2019 mehr als die Hälfte aller weltweit neu gebauten Kraftwerksleistung in Windkraftanlagen installiert.
Schon bis 2037 könnten seines Erachtens die Erneuerbaren die vollständige Stromversorgung weltweit übernehmen. Eine Kilowattstunde Windstrom kostet in vielen Regionen schon heute nur noch sechs bis acht Cent, an sehr guten Standorten sogar noch weniger. Damit ist Windenergie unter neuen Kraftwerken häufig die billigste Stromerzeugungstechnik.
Schneller Umstieg ist kostengünstiger
Das Institut ISUSI (Institute for Sustainable Solutions and Innovations) hat ein Ausbauszenario für die Bereiche Strom und Wärme errechnet. Danach kann der Ausbau der erneuerbaren Energien sehr viel schneller und mit deutlich geringeren Investitionen erfolgen, als manche befürchten.
Die Wissenschaftler legten für ihre Analyse je nach Weltregion unterschiedlich hohe Pro-Kopf-Investitionsbeträge zugrunde. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass 2030 die Erneuerbaren Energien mindestens 29 Prozent des gesamten Strom- und Wärmebedarfs decken – und das bezogen auf den dann höheren Verbrauch, den die IEA prognostiziert. Verglichen mit dem heutigen Weltenergieverbrauch würde der Anteil sogar über 40 Prozent betragen. Das heißt: Sollte der Energieverbrauch stagnieren oder sinken, ist das Ziel schneller erreichbar.
Die beiden Studien zeigen, dass bisherige Prognosen viel zu pessimistisch sind, denn sie unterschätzen die Macht politischer Rahmenbedingungen, die Dynamik der Massenfertigung und den Entwicklungseifer der Ingenieure. Insgesamt wäre ein schnellerer Umstieg auch kostengünstiger: Erstens, weil sich regenerative Energietechniken rascher verbilligen und zweitens die Preissteigerungen durch Verknappung bei den fossilen Energien vermutlich moderater ausfallen würden.
Wie schnell die Erneuerbaren in einzelnen Regionen zur Energiegewinnung beitragen, kann man auf der Seite www.energymap.info verfolgen, welche dank der Unterstützung unseres DGS Fachausschussvorsitzenden für Solare Mobilität, Tomi Engel, ins Netz gestellt werden konnte (siehe Seite 60).
Erneuerbare lösen das Grundproblem nicht (ganz)
Eigentlich ist es doch ganz einfach zu verstehen, könnte man meinen: Auf der Erde, einem Planeten begrenzter Größe mit begrenzten Ressourcen, stößt Wachstum von Teilsystemen irgendwann an Grenzen. Nein, lautet die Replik, wenn man das ganze juristisch betrachten würde: die Erde ist ein offenes System – Energie wird von außen zugeführt, und diese Energie stellt die Sonne für Jahrmilliarden in schier unerschöpflicher Menge zur Verfügung. Duplik: Der Mensch lebt nicht allein von Luft und Sonnenstrahlen. Sonnenenergie kann durch Photosynthese nur von pflanzenartigen Lebewesen (und verschiedenen Bakterien) direkt genutzt werden. Wir brauchen also mehr als nur Sonne und Luft, obwohl die erneuerbaren Energiequellen alle auf die Kraft der Sonne beruhen.
Lebensgrundlage wird konsumiert
Ein neues, angemessen komplexes Verständnis der Nachhaltigkeit ist notwendig. Die Vision eines kohlenstofffreien, solarstrombetriebenen Wachstums könnte ohne grundlegende Veränderung des Gesellschaftssystems eine Illusion bleiben, die ihre Rechnung ohne die Thermodynamik macht. Nicht Armutsbekämpfung muss das Ziel sein, so eine gewagte These, sondern es muss vorrangig um Wachstumsbekämpfung gehen, zumindest solange Erneuerbare Energien, Energieeffizienz und vor allen auch das im Artikel Green New Deal beschriebene TotalRecylingManagement (SONNENENERGIE, Ausgabe 1–2010) noch nicht flächendeckend eingesetzt werden.
Alle tierischen Konsumenten – und damit auch die Menschen – sind darauf angewiesen, dass ihnen die Energie der Sonne in Form von organischen Kohlenhydraten durch Pflanzen zur Verfügung gestellt wird. Zudem sind Pflanzen fundamentale Komponenten der Ökosysteme dieser Erde, die wiederum eine Vielzahl anderer Ökosystemfunktionen für uns bereitstellen und damit für uns geeignete Lebensbedingungen schaffen. Das Wachstum der Menschheit drängt funktionstüchtige Ökosysteme zurück, die entsprechend für zusehends mehr Menschen mit wachsenden Bedürfnissen immer weniger Leistungen bereitstellen können. Wir konsumieren also unsere Lebensgrundlage!
Eine Gesellschaft, die über längere Zeit die Kapazität der sie tragenden Ökosysteme überlastet und degradiert, wird unweigerlich einen tief greifenden Transformationsprozess durchlaufen. Im Extremfall folgt der Kollaps, d.h. die Auflösung von Strukturen und Merkmalen, über die sich komplexe menschliche Gesellschaften definieren: von politischen Institutionen bis hin zu kulturell-integrierenden Mechanismen wie etwa Moralsystemen. Kollaps oder Disaggregation komplexer menschlicher Gesellschaften sind historisch gesehen wohl bekannte Prozesse, die in der Geschichte dank weit reichender Isolation der Gesellschaften allerdings lokal oder regional abliefen. Aufgrund des vom Menschen verursachten globalen Umweltwandels sowie der intensiven globalen Verflechtung und der damit geschaffenen gegenseitigen Abhängigkeit fast aller Teilsysteme der menschlichen Gesellschaften ist es erschreckend plausibel, dass bei längerfristiger Überschreitung unserer ökologischen Grenzen ein dominoartiger bzw. sich aufschaukelnder Kollaps eintreten könnte.
Hauptverantwortlich für die globale Tragfähigkeitskrise ist unser derzeitiges turbokapitalistisches Entwicklungsmodell, das dem Primat des (Wirtschafts-) Wachstums folgt. Es würde zu kurz greifen, den Kapitalismus lediglich als Wirtschaftsmodell zu bezeichnen, da es sich in vielen Ländern um ein inzwischen kulturell verfestigtes und politisch institutionalisiertes Entwicklungsmodell handelt, das nicht ohne weiteres ersetzt werden kann. Wachstum wurde und wird selbstverständlich auch unabhängig vom kapitalistischen Entwicklungsmodell durch grundlegende Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung erzeugt. Das kapitalistische Wirtschaften allerdings potenziert den Ressourcenverbrauch der wachsenden Erdbevölkerung. Wachstum ist Selbstzweck und Ziel bzw. auch Bedingung des Kapitalismus. Andere prominente Entwicklungsmodelle wie der Sozialismus bieten zwar angeblich eine sozialverträglichere aber keineswegs ökologisch akzeptable Alternative zum Wachstumsparadigma. Sozialistische Staaten wuchsen und wachsen u.U. langsamer, sind jedoch wesentlich ineffizienter hinsichtlich des Energie- und Ressourcenverbrauchs pro Produktionseinheit. Ein grundsätzliches Umdenken ist also notwendig!
Nikolaus von Bomhard, Vorstandschef der Munich Rückversicherung, brachte letztes Jahr diese Problematik in einem Interview mit der Zeit auf den Punkt:
„Unsere gesamte Gesellschaft ist völlig auf Wachstum fixiert. Deshalb steht uns ein gigantischer Paradigmenwechsel bevor“…
Ausblick: Alt-68er gegen Jung-2018er?
Wie kann dieser Paradigmenwechsel aber aussehen? Wird es ein Generationenkonflikt, in dem Alt-68er 50 Jahre später und die dann Jung-2018er gegeneinander demonstrieren, um ihre Rechte zu erhalten – randalierende Rentner gegen streikende Studenten? Eine Warnung, die sich auch als Drohung verstehen lässt. Denn der Verteilungskampf ums Geld geht in die nächste Runde. Ohne Wachstum fehlt es nicht nur an Geld, sondern auch an Freiheit, an Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes und produktives Leben zu führen. Es geht um viel mehr als um Konsummöglichkeiten. Das schürt bei den Verlierern Frustrationen, die womöglich schwer kontrollierbar sind.
Erster Grundsatz der Thermodynamik:Von nix kommt nix
Wolfgang Reitzle, Vorstandschef der Linde AG fasst die Grundsatzdiskussion zusammen wie man es treffender nicht hätte machen können „Für mich gilt der erste thermodynamische Grundsatz auch für die Wirtschaft: Von nix kommt nix.“
Nullwachstum – das bedeutet düstere Aussichten für Deutschlands Zukunft. Ein Heer von Geringverdienern in Dienstleistungsjobs, die zusätzlich staatliche Stütze brauchen. Massenhaft Alte, die von ihren Renten nicht leben können. Immer weniger Mittelstand mit ordentlichem Einkommen, der all diese Sozialleistungen finanzieren muss. Und die gut ausgebildeten Jungen verlassen in Scharen das Land, um andernorts ihr Glück zu machen.
Das kapitalistische Entwicklungsmodell hat einem Teil der Weltbevölkerung in vergleichbar kurzer Zeit enormen Wohlstand beschert. Dabei haben wir jedoch in unglaublicher Geschwindigkeit die ökologische Tragfähigkeit unseres Planeten überschritten und gleichzeitig große soziale Ungleichheit geschaffen. Ein auf Wachstum begründetes Entwicklungsmodell ist damit, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht mehr tragfähig.
Wir müssen uns deshalb vom bisherigen Wachstumsmodell verabschieden: Effizienz und qualitatives Wachstum sind zwar eine Therapieform, werden aber nicht ausreichen. Wir müssen uns und unsere Verhaltensweisen grundlegend verändern. Aber wohin geht die Reise, und was erwartet uns? Wie sieht die im ersten Teil unserer Serie beschriebene Post-Wachstumsgesellschaft in der Praxis aus? Und viel wichtiger, wie schaffen wir die Transformation – und zwar möglichst sanft, ohne ernste Konflikte? Ist eine freiwillige Transformation in demokratischen, liberalen Systemen überhaupt realistisch, oder müssen wir aktiv anfangen, unser eigenes, uns mit Spaß und Einkommen versorgendes System zu boykottieren und zu sabotieren?
Sich an Grenzen auszurichten heißt, dass es keine Tabus geben darf. Alles muss auf den Prüfstand, wir müssen ggf. lernen, lieb gewonnene „Errungenschaften“ loszulassen. Der Weg zu einer wahrhaftigen Nachhaltigkeit bedarf einer „neuen ökologischen Radikalität“ im Sinne von „weniger alter Politik“ und des konsequenten Ausrichtens an der Funktionstüchtigkeit der Ökosysteme, die uns tragen. Dies geht nur mit dem schnellen Umstellen unseres Verhaltens, dem massiven Einsparen beim Verbrauch von Rohstoffen, dem effizienten Einsatz von Energie und dem Einsatz Erneuerbarer Energien.
Gunnar Böttger