Wie können wir klimaneutral werden?
Negativemmissionen sind nötig und möglich: Für den Aufbau von Kohlenstoffsenken gibt es ökologische und technische Lösungsansätze. Dabei kann die Bioenergie Treibhausgase nicht nur vermeiden, sondern auch der Atmosphäre entziehen, etwa durch CO2-Abscheidung in der Biomethanproduktion oder Gewinnung von Pyrolysekohle. Auf europäischer Ebene entsteht zurzeit ein regulatorischer Rahmen unter dem Kunstwort LULUCF und die Bundesregierung möchte eine Senken-Strategie erarbeiten.
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Pflanzen halten CO2 im Kreislauf. Gelingt es, einen Teil davon langfristig der Atmosphäre zu entziehen, entsteht eine Treibhausgassenke. Quelle: Deutscher Bauernverband nach Angaben des Thünen-Instituts
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Landwirtschaftliche Böden sind die größten Kohlenstoffspeicher Deutschlands. Quelle: Thünen-Institut
Erst vor kurzem hat der Weltklimarat IPCC wieder einen bedrohlichen Lagebericht veröffentlicht. Bei der Bekämpfung des Klimawandels tritt dabei ein Begriff immer mehr in den Vordergrund: Negativemissionen. Klimaneutralität durch eine Reduzierung des Treibhausgasausstoßes auf Null wird nicht möglich sein, denn eine unvermeidbare Restmenge wird bleiben. Die Klimawissenschaftler sind sich einig, dass für die Treibhausgas(THG)-Neutralität eine Kompensation der Restemissionen durch THG-Senken - in der Klimabilanz gleichbedeutend mit Negativemissionen - erforderlich ist. Als Senken definiert § 1.8 des UN-Klimarahmenabkommens Prozesse, Aktivitäten oder Mechanismen, die Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen. Aufgrund der überragenden Bedeutung von Kohlendioxid werden also größere Kohlenstoffsenken benötigt.
Im Boden wird Kohlenstoff langfristig durch Humifizierungsprozesse eingebaut. Natürliche Mineralisierungsprozesse führen im Boden wiederum zum Abbau der organischen Bodensubstanz und zur Freisetzung der Treibhausgase CO2, Methan und Lachgas. Der Aufbau und Abbau organischer Substanz steht in einem dynamischen Gleichgewicht. Die genannten Prozesse werden in der Klimaschutzberichterstattung im sogenannten LULUCF-Sektor (Land Use, Land Use Change and Forestry, auf Deutsch „Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft) bilanziert. Die Landwirtschaft ist eine eigene Kategorie.
Der LULUCF-Sektor umfasst Wälder und Forste, Äcker und Grünland, Feuchtgebiete, Siedlungen und die Kohlenstoff-Fixierleistung von Holzprodukten. Die Berechnung von Senkenleistungen ist allerdings schwierig, denn innerhalb kurzer Zeiträume kann es durch Bewirtschaftung oder Naturkatastrophen zu großen Veränderungen kommen. Daher war der LULUCF-Bereich lange von den quantitativen Klimaschutzverpflichtungen der EU ausgenommen. Obwohl die erreichte Leistung der Kohlenstoffsenken in Europa 2006 einen Höchststand von 355 Mio. t CO2 pro Jahr erreichte, ist sie laut Öko-Institut seither wieder auf 280 Mio. t CO2 pro Jahr im Jahr 2018 zurückgegangen. Gerade der Wald ist dem Klimawandel besonders stark ausgesetzt: Forstmonokulturen, Stürme und Trockenheit führen dazu, dass Bäume absterben, Schädlinge sich leichter ausbreiten und noch mehr Bäume vernichten. Schätzungen zufolge wird die Netto-„Waldsenke“ bis 2030 um mehr als 50 % schrumpfen.
Mitte Juli 2021 hat die EU-Kommission im Rahmen des „Fit for 55“-Pakets den Vorschlag einer überarbeiteten LULUCF-Verordnung vorgelegt: Bis 2030 soll die Senkenleistung auf 310 Mio. t CO2-Äquivalent erhöht und unter den Mitgliedstaaten für die Periode 2026 bis 2030 aufgeteilt werden. Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, dass der deutsche LULUCF-Bereich im Jahr 2030 Treibhausgase in Höhe von 30,8 Mio. t CO2-Äq(uivalente) binden soll. Bislang verlangt das Bundes-Klimaschutzgesetz in der LULUCF-Emissionsbilanz bis 2030 mindestens minus 25 Mio. t CO2-Äq, minus 35 Mio. t bis 2040 und minus 40 Mio. t bis 2045.
„Die europäische Zielvorgabe für Deutschland in Höhe von -30,8 Mio. t CO2-Äq entbehrt einer wissenschaftlichen Bezugsbasis, ist rein politisch festgelegt, realistisch nicht erreichbar und steht einem holistischen Klimaschutzansatz entgegen. Sie ist daher als Zielvorgabe ungeeignet“, wettert Gerolf Bücheler, Geschäftsführer Politik beim Bundesverband Bioenergie (BBE). Der Projektionsbericht 2021 der Bundesregierung gehe von Emissionen im LULUCF-Bereich in Höhe von (+) 22,3 Mio. t CO2-Äq aus, was ein Verfehlen der Zielvorgabe um knapp 53 Mio. t CO2-Äq bedeute. Dabei seien in dieser Projektion Waldschäden durch Dürre noch gar nicht berücksichtigt. Der BBE empfehle daher, das Unionsziel „Bottom-Up“, basierend auf den Projektionen der Mitgliedstaaten, zusammenzuführen.
Ökologische und technische Lösungen
Die kurzfristige Umkehr der THG-Bilanz des LULUCF-Bereiches ins Negative wäre eine kaum leistbare Aufgabe. „Wie kann das THG-Senkenziel erreicht werden, das langfristig für THG-Neutralität nötig ist? Wohl kaum mit Extensivierungs- und Stilllegungsmaßnahmen im Wald oder in der Landwirtschaft alleine, sondern auch mit sinnvoller Biomassenutzung“, gibt Bücheler zu bedenken. Die Umwandlung von Acker in Grünland und die Wiedervernässung von Mooren würde die Landbewirtschaftung massiv beeinträchtigen, warnt er. Unter den acht, auf internationaler Ebene diskutierten, ökologischen und technischen Lösungsansätzen (siehe Kasten) beträfen vier direkt oder indirekt die Bioenergie: Humus in Böden, Bioenergie mit Carbon Capture and Storage (BECCS), Pflanzenkohle und die Wiederaufforstung. CCS steht dabei für „CO2-Abscheidung und Speicherung“
„Biomasse kann nicht nur im CO2-Kreislauf fossile Energieträger ersetzen und damit Emissionen reduzieren, sondern auch im Anbau und nach der Energiegewinnung als Treibhausgassenke wirken“, argumentiert Bücheler. Damit stelle Bioenergie als einzige erneuerbare Energieform sowohl für die Vermeidung als auch den Entzug von Treibhausgasen Lösungen bereit, woraus ihr eine grundlegend veränderte Bedeutung und Rolle in der Klima- und Energiepolitik erwachse. Das Ziel müsse sein, von dem in der Biomasse gebundenen Kohlenstoff bei der Nutzung einen möglichst großen Anteil der Atmosphäre langfristig zu entziehen.
„Eine nationale CO2-Senkenstrategie sollte in einem breiten gesellschaftlichen Prozess Ansätze und Maßnahmen für negative Emissionen identifizieren, umsetzen und anreizen. Wir werden alle möglichen Lösungen benötigen, auch eine konsequente Nutzung aller nachhaltig verfügbaren Biomassepotenziale“, fordert der Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsexperte. Im Agrarbereich kann die Strategie an die europäischen Pläne zu „Carbon Farming“ angelehnt werden, worunter regenerative Landwirtschaft mit dem Ziel der Kohlenstoffanreicherung im Boden zu verstehen ist. Die EU-Kommission will mit Initiativen und Maßnahmen in diesem Bereich bis zum Jahr 2030 auf 42 Mio. t. CO2 in natürlichen Senken speichern. Eine viel diskutierte Lösung ist hier der Humusaufbau: Laut Bücheler könnten zum Beispiel Bioenergiefruchtfolgen mit Maisuntersaaten und Zwischenfrüchten sowie Dauerkulturen, wie die durchwachsene Silphie, Humus mehren. Agroforstsysteme, Hecken oder Feldgehölze würden ebenfalls zum Humusaufbau beitragen und zudem den Boden vor Erosion schützen. Beim Aufbau eines Zertifizierungssystems für Humus in Böden seien Fragen nach Messmethoden, Dauerhaftigkeit und auch dem Umgang mit der natürlichen Humussättigung zu klären. Bücheler: „Erst dann sind Humuszertifikate glaubhaft und sinnvoll als Klimaschutzmaßnahme verwendbar.“
Bioenergie mit CCS
Verschiedene Bioenergieverfahren ermöglichen es, der Atmosphäre aktiv Treibhausgase während der Produktion zu entziehen: Bei BECCS wird das freiwerdende CO2 aufgefangen und gespeichert, bei BECCU wird es genutzt anstatt dauerhaft gespeichert (das U steht hier für Nutzung = Use). Am bekanntesten ist dabei die Aufbereitung von Biogas zu Biomethan in Erdgasqualität. Falls das abgeschiedene CO2 einer Nutzung, etwa verflüssigt in der Chemie- oder Getränkeindustrie, zugeführt wird, gilt das als BECCU. Eine weitere derartige Technologie könnte mit der Dampfreformierung von Biogas zur Wasserstoffgewinnung bald Verbreitung finden und auch die Aufbereitung von Gärresten zur stofflichen Nutzung fällt unter diese Kategorie.
Auch mit der Holzvergasungstechnologie kann CO2 abgeschieden und gespeichert werden; nämlich dann, wenn als Koppelprodukt Holzkohle mit hohem Kohlenstoffgehalt gewonnen wird. Außerdem etablieren sich allmählich Pyrolyseanlagen, die gezielt Holzkohle erzeugen; oder Pflanzenkohle aus anderen Biomassen. Beide Versionen werden als PyCCS zusammengefasst. „Die bei der Verkohlung von Biomassen entstehende Pflanzenkohle ist verschiedenen Forschungen zufolge in Böden nachweisbar sehr stabil und baut sich nur minimal ab“, sagt Bücheler. Pflanzenkohle wirke sich positiv auf die Struktur und Fruchtbarkeit von Böden sowie den Humuszuwachs aus. Als Futterzusatz könne sie die Tiergesundheit verbessern und als Zusatz in Biogasanlagen ließe sich die Methanausbeute und zudem der Kohlenstoffgehalt des Gärrestes steigern. Auf EU-Ebene ist Pflanzenkohle aus Pyrolyse- und Vergasungsverfahren mittlerweile in die Düngemittelverordnung aufgenommen worden. Die Aktualisierung gilt ab 16. Juli 2022. Der BBE fordert hier eine nationale Anpassung an das künftige EU-Recht respektive an den Industriestandard European Biochar Certificate.
Ein großes Manko ist für den BBE-Geschäftsführer, dass gemäß IPCC-Leitlinien in der THG-Bilanz einzig im LULUCF-Bereich Negativemissionen anerkannt werden: THG-Senken aus Bioenergie mit CCS sind jedoch in der Kategorie Energie zu verbuchen und für Pflanzenkohle existieren noch gar keine Berichtsleitlinien. Der BBE fordert von EU-Kommission und Bundesregierung, sich in den UN-Klimakonferenzen für verbesserte IPCC-Berichtsstandards einzusetzen. Auch im bundesdeutschen Klimaschutzgesetz werden „technische Senken“ ausgeschlossen. „Dadurch wird die Kompensation unvermeidbarer Restemissionen unnötig erschwert und ein enormer Druck auf Landnutzungsextensivierungen ausgeübt“, klagt Bücheler. Er fordert, in Folge einer nationalen CO2-Senkenstrategie Förderprogramme nach dem Vorbild der „Reallabore Energiewende“ einzuführen, um auch technische CO2-Senken zu ermöglichen: „Dabei sollte explizit auch die Technologie- und Marktentwicklung der Abscheidung und Speicherung von CO2 an Bioenergieanlagen und der Verwendung von Pyrolyse-Pflanzenkohle gefördert werden.“
Im Ampel-Koalitionsvertrag sieht Bücheler schon mal ein positives Signal: „Wir bekennen uns zur Notwendigkeit auch von technischen Negativemissionen und werden eine Langfriststrategie zum Umgang mit den etwa fünf Prozent unvermeidbaren Restemissionen erarbeiten“, steht dort unter dem Überpunkt „Transformation der Wirtschaft“. Im Dezember hat die EU-Kommission mitgeteilt, künftig die Bioökonomie – also den Ersatz von Kunststoffen durch nachwachsende Rohstoffe – und technische CO2-Senken stärker fördern zu wollen. Ihr Ziel ist, ab 2030 die Bereiche LULUCF und Landwirtschaft zusammenzufassen und hier bis 2035 Klimaneutralität zu erreichen. Grundlage hierfür soll ein Kohlenstoffzertifikat werden, dessen Rechtsrahmen die Kommission noch bis Ende 2022 auf den Weg bringen will.
LULUCF aus Naturschutz-Sicht
„Senken entstehen durch das Wachstum von Biomasse, die langfristig Kohlenstoff in Vegetation, Böden und Holzprodukten speichert“, erklärt Bjela Vossen, EU-Koordinatorin beim Deutschen Naturschutzring. Aus der Nutzung von Biomasse und Böden würden aber auch Emissionen freigesetzt, beispielsweise durch die intensive Landbewirtschaftung oder die Entwässerung von Mooren. „Um Klimaneutralität zu ermöglichen, ist die Rolle von Landnutzung und natürlichen Senken mitentscheidend“, meint sie. Der Europäische Rat habe deshalb Ende 2020 den LULUCF-Sektor in das EU-Klimagesetz aufgenommen: Der Beitrag der LULUCF-Kohlenstoffsenken von 225 Mio. t CO2-Äquivalent entspreche 2,2 % der heutigen klimarelevanten Emissionen und bedeute, dass das 55-%-Ziel bis 2030 eine absolute Reduktion der klimaschädlichen Gase von nur 52,8 Prozent vorgebe.
Zum Aufbau von Kohlenstoffsenken favorisieren Natur- und Klimaschutzorganisationen „natürliche Maßnahmen“: „Der billigste und effektivste Weg, die Kohlenstoffbindung zu erhöhen, ist der Schutz und die Wiederherstellung von Wäldern, Torfgebieten und anderen natürlichen Ökosystemen“, äußert sich das Climate Action Network Europe. Praktiken, die eine Win-win-Situation für das Klima und die biologische Vielfalt darstellen, sollten ausgeweitet werden.
Acht NETs
Für das Zwei-Grad-Ziel bis zum Jahr 2100 ist ein Beitrag von negativen Emissionstechnologien (NETs) erforderlich. Hierzu wurde 2018 eine große Metastudie veröffentlicht. Aus Deutschland war das Berliner Mercator Institut für Klimawandel (MCC) beteiligt. Sieben Technologien werden näher betrachtet. „Blauer Kohlenstoff“ wird in der Studie zwar nur unter „Sonstige“ behandelt, erfährt aber in den jüngsten Diskussionen große Aufmerksamkeit.
- Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (BECCS, siehe dieser Artikel)
- Aufforstung und Wiederaufforstung (AR, Baumpflanzungen auf „Nicht-Waldflächen“ und auf kürzlich abgeholzten Flächen)
- Direkte Luftkohlenstoffabscheidung und -speicherung (DACCS, die direkte CO2-Abscheidung und -Speicherung aus der Umgebungsluft)
- Verbesserte Verwitterung (EW = Enhanced Weathering, terrestrisch und in Ozeanen) - EW zielt darauf ab, durch chemische und physikalische Prozesse die Gesteinszersetzung auf für den Menschen relevante Zeitskalen zu beschleunigen, um durch chemische Reaktionen atmosphärisches CO2 zu binden.
- Ozeandüngung (OF) basiert auf dem Effekt der biologischen Produktionssteigerung, wobei dem oberen Ozeanwasser gezielt Nährstoffe hinzugefügt werden. Die Effizienz des Verfahrens wird durch die chemische Form des zugesetzten Nährstoffs bestimmt.
- Biokohle (BC, durch Pyrolyse gewonnene Pflanzenkohle, siehe Haupttext)
- Kohlenstoffbindung im Boden (durch eine Änderung der Landbewirtschaftung den Gehalt an organischem Kohlenstoff im Boden erhöhen, siehe Haupttext)
- Blauer Kohlenstoff: Kohlenstoff, den der Ozean sowie Meeres- und Küstenökosysteme aufnehmen und speichern; Seegräser, Mangroven und Salzwiesen. Durch Verringerung des Nährstoffeintrags, die Vermeidung von Verwirbelungen und die Wiederherstellung der natürlichen Hydrologie lässt sich die Kohlenstoffbindung steigern.
Christian Dany