Was kommt nach dem Mentizän?
Es sieht so aus, als hätte eine neue Ära der Aufklärung begonnen. Manche haben die neuen Einsichten 2015 gewonnen und auf sich wirken lassen. Manche im Oktober 2019 oder in den fünf Jahren, die seitdem ins Land gezogen sind, und sind vielleicht noch dabei, den Realitätsabgleich zu bewältigen. Wieder anderen sind die Hintergründe eventuell noch heute unbekannt. In dem Sinne, ein kurzer Rückblick.
Realitätsabgleich
2015: Der niederländische Journalist Jelmer Mommers berichtet darüber, dass Wissenschaftler des Energieunternehmens Exxon bereits vor Jahrzehnten prognostiziert hatten, dass die globale Erderwärmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts spürbar werden würde [1]. Zwischen den Jahren 1977 und 2003 erstellte Exxon eine Reihe von Vorhersagen zur globalen Erwärmung. Die Modelle prognostizierten einen Anstieg der globalen Temperaturen um durchschnittlich 0,2 °C pro Jahrzehnt. Das stimmt erstaunlicherweise sehr gut mit Angaben der NASA überein: Der Organisation zufolge ist die globale Durchschnittstemperatur seit 1981 um etwa 0,18 °C pro Jahrzehnt angestiegen.
Damals wussten die Forschenden bereits, dass der Verbrauch fossiler Brennstoffe zu dramatischen Umweltauswirkungen vor dem Jahr 2050 führen würde. Sie wussten, dass die Menschen, die jetzt auf der Erde leben, in den nächsten Jahren mit solchen Notlagen klarkommen werden müssen. Möglicherweise hatte Exxon Mobil in den Jahren einen besseren Einblick in die drohenden Gefahren der globalen Erderhitzung als NASAFachleute.
Die Zusammenhänge zwischen den Produkten der Fossilindustrie und der globalen Erwärmung waren im Energieunternehmen offenbar bekannt. Im Jahr 1982 prognostizierten Exxon-Mitarbeiter sehr genau, dass die Konzentration an Kohlenstoffdioxid auf der Erde bis 2019 auf 415 ppm steigen würde, und die mittlere Temperatur um 1 °C [2]. Doch diese Erkenntnisse haben sie der Öffentlichkeit bewusst verschwiegen. Derzeit, nach dekadenlangen Emissionen und Desinformationskampagnen, liegt dieser Wert bereits bei 423 ppm (siehe auch S. 58 in dieser Ausgabe). So hohe Emissionswerte gab es vor rund drei Millionen Jahren.
2018: Nun wird öffentlich bekannt, dass auch die Wissenschaftler von Shell Anfang der 1980er-Jahre Erkenntnisse über den Klimawandel hatten.
Profi-Lügen
Exxon führte eine jahrzehntelange Kampagne durch, um die Wissenschaft über den Klimawandel und seine Verbindung zur Verbrennung fossiler Brennstoffe zu diskreditieren. Die Kampagne, die den Konsens in Frage stellen sollte, kostete 31 Millionen US-Dollar [3]. Der Öffentlichkeit wurden Lügen aufgetischt. Deshalb könnte diese Zeit auch als Mentizän bezeichnet werden, als Ära der Lügen – mentīrī (lateinisch) bedeutet lügen.
Eine öffentliche Anhörung
2019: Im Herbst fand eine Anhörung vor dem US-Repräsentantenhaus statt, es ging um nichts weniger als eine Untersuchung der Bemühungen der Ölindustrie, die Wahrheit über den Klimawandel zu unterdrücken [4]. Eine größere Öffentlichkeit erfuhr – teilweise über einen Livestream auf Youtube [5] – nun, dass Ölkonzerne seit mehr als vier Jahrzehnten über den Zusammenhang zwischen der Verbrennung fossiler Brennstoffe, dem Anstieg vom Ausstoß an Treibhausgasen und der globalen Erderwärmung Bescheid wussten.
Historisches Leugnen als Verzögerungstaktik
Ein Zeuge bei der Anhörung war Dr. Ed Garvey, ein ehemaliger Wissenschaftler von Exxon. Ein weiterer Zeuge war Dr. Martin Hoffert, ein ehemaliger Berater von Exxon. Hoffert bezeichnete „Exxons historisches Leugnen“ als unmoralisch. Er bestätigte, dass Exxons Taktik „Bemühungen, den Klimawandel anzugehen,
verzögert hat“ [5].
Nun wissen wir, dass diese Lügen erfolgreich waren, und wie erfolgreich. Es reicht aus, sich an all die Debatten ab dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro und den ersten UN-Klimakonferenzen zu erinnern, die sich verzögernde Ratifizierung des Kyoto-Protokolls. All diese Mentizän-Debatten. Wir wurden alle ganz bewusst angelogen, Jahrzehnte lang. Nun ist das Allgemeinwissen. Dass Klimaschutzmaßnahmen viel zu langsam
umgesetzt wurden und eine Fossilenergiepolitik des „Weiter so“ nicht mehr geht, auch.
Quellen:
[1] 12.01.2023; Los Angeles Times, „Exxon Mobil publicly denied global warming for years but quietly predicted it“, latimes.com/environment/story/2023-01-12/exxonmobilaccurately-predicted-effects-of-global-warming
[2] Siehe Grafik auf S. 14 der „Exxon CO2-Fibel“ aus demJahr 1982, ein Dokument, das den Stand der Wissenschaft über den Treibhauseffekt beschreibt und im Exxon-Management weit verbreitet wurde; insideclimatenews.org/wp-content/uploads/2015/09/1982-Exxon-Primer-on-CO2-Greenhouse-Effect.pdf
[3] 25.11.2015, The Guardian, „Two-faced Exxon: the misinformationcampaign against its own scientists“, theguardian.com/environment/climate-consensus-97-percent/2015/nov/25/two-faced-exxon-the-misinformationcampaign-against-its-own-scientists
[4] 23.10.2019, „Examining the Oil Industry’s Efforts to Suppress the Truth about Climate Change”); S. 6; docs.house.gov/meetings/GO/GO02/20191023/110126/HHRG-116-GO02-Transcript-20191023.pdf
[5] Videoaufzeichnung der Anhörung vor dem Repräsentantenhaus [3]; youtube.com/watch?t=7479&v=bfHt4U0r8Qw&feature=youtu.be
Tatiana Abarzúa