Mehr progressive Politik wagen
Neulich hörte ich einen Politik-Profi sa-gen, es gebe keine Mehrheiten für pro-gressive Inhalte. Ja, lesen Sie den Satz gerne noch mal. Es ist so ernüchternd. Besonders in dieser Zeit parteiübergrei-fender Unklarheit im politischen Berlin und anderswo. Dabei steigt der Hand-lungsdruck immer weiter – und die Par-teispitzen befinden sich längst im Wahl-kampfmodus.
Kurz vor Druckschluss dieser Ausgabe: Der Kanzler entlässt den Finanzminister fristlos. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreicht die Entlassungs-urkunden an die Liberalen: Finanzmi-nister Christian Lindner, Justizminister Marco Buschmann und Bildungsminis-terin Bettina Stark-Watzinger. Jörg Ku-kies, bisheriger Staatssekretär im Bun-deskanzleramt, ist Lindners Nachfolger. Volker Wissing – nun ohne FDP-Partei-buch – und Cem Özdemir befördert zu Doppelministern. Das Regierungsbündnis zusammengeschrumpft auf eine Ampel ohne gelbe Schaltphase.
Es ist noch keine Woche vergangen, seit-dem Lindners „Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ öffent-lich bekannt wurde. Das PDF ist inzwi-schen auf der Website der Bundespartei verlinkt. Diese 18 Seiten – eventuell eine Reminiszenz an die Strategie 18 aus den Nullerjahren? – wirken wie eine Provo-kation gegenüber SPD und Grünen. Sie enthalten laut CDU-Vorsitzendem und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz For-mulierungen, die zum Teil wörtlich aus Anträgen von CDU und CSU aus den vergangenen zwei Jahren übernommen seien, wie der Deutschlandfunk berichtet [1]. Zum Thema Klimapolitik stellt Lindner die Forderung auf, dass „die natio-nalen Ziele, wie die nationalen Zwischen-ziele, durch die europäischen Ziele ersetzt werden“. Zudem: alle sektorbezogenen Klimaschutzziele abzuschaffen, und „auf europäischer Ebene insbesondere die Ab-schaffung der Regulierungen zur Ener-gieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte durchsetzen“. Eine andere Forderung: „Im Gebäude-energiegesetz könnte der Zeitpunkt, ab dem Heizungen vollständig klimaneutral sein müssen, um fünf Jahre verschoben werden.“ Dass er den gesetzlich festge-legten Zeitpunkt für den Kohleausstieg als „nicht notwendig“ bezeichnet und eine unbeschränkte Zulassung von CO2-Abscheidung und -Speicherung an Land verlangt (carbon capture and storage, kurz: CCS), überrascht da niemanden. Allerdings, dass weder die FDP-Bundes-tagsfraktion noch das Parteipräsidium vor der Veröffentlichung vom „Lindner-Papier“ gewusst haben wollen – wie der Tagesspiegel berichtet – verblüfft schon. Lindners disruptives Verhalten – es wirkt so bekannt – erinnert an seinen Satz nach der Bundestagswahl 2017: „Lieber nicht regieren, als falsch regieren“. Vier Jahre später war es dann doch so weit, dass die FDP den Schritt in die Regierungs-verantwortung ging. Doch wer hätte sich 2021 vorstellen können, dass es auf den letzten Metern mit dem Parteien-Trio so zu Ende geht wie jetzt? Drei Jahre nach dem Koalitionsvertrag, der mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltig-keit“ verziert war wie ein bunter Smar-tieskuchen? Oder ging es bereits damals nur um taktische Manöver?
„In den verbleibenden Sitzungswochen des Bundestages bis Weihnachten wer-den wir alle Gesetzentwürfe zur Abstim-mung stellen, die keinerlei Aufschub dulden“, sagte Scholz am 6. November. Zu einzelnen Gesetzesvorhaben kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aktuell keine Aussage treffen, erfahren wir auf Nachfrage. So-mit wissen wir noch nicht, wie es etwa mit den angekündigten Änderungen im Energiewirtschaftsrecht und beim Marktstammdatenregister weitergehen wird, oder dem Kohleausstieg, der Miet-preisbremse und dem Deutschlandticket. Zum Realitätsabgleich dieser Zeit gehört auch, dass über 75 Millionen Menschen in den USA Trump zum Präsidenten ge-wählt haben. Im Wahlkampf kündigte er an, Umweltschutzmaßnahmen rückgängig zu machen, die arktische Wildnis für Ölbohrungen und Nationalparks für den Bergbau zu öffnen. Nach Angaben der Tageszeitung The Washington Post soll der schamlose Serienlügner in seiner ersten Amtszeit 30.573-mal die Unwahr-heit gesagt haben [2]. Die ausgezählten Stimmen zeigen: Der autoritäre Natio-nalist konnte seine Wählerschaft halten. Denn 2020, als mehr als 81 Millionen Menschen Biden wählten, setzten etwa 74 Millionen ihr Kreuz bei Trump.
All dies geschieht etwa zwei Wochen nach verheerenden, massiven Über-schwemmungen in Spanien, die vor allem die Region Valencia betreffen. Über 200 Menschen starben. Ausgelöst wurden die Regenfälle durch ein sehr kleines, loka-les Tiefdruckgebiet, mit Höhenkaltluft, isoliert über längere Zeit an der glei-chen Stelle [3]. Kalte Luft in dieser Höhe begünstigt Starkregen-Ereignisse. Die globale Erderhitzung wiederum erhöht die Anzahl und Intensität solcher Wet-terereignisse – da sich Atmosphäre und Mittelmeer immer weiter erwärmen, die Luftmassen mehr Wasserdampfmolekü-le aufnehmen, sich mehr Wolken bilden und die Menge an Regen steigt. Pro Grad Temperaturerhöhung fällt etwa 7 % mehr Wasserdampf als Regen [4].
So ein Ereignis wie diese Flut in Spanien sollte alle Menschen wachrütteln, zu handeln. Mehr denn je auf Klimaschutz, Energie-, Mobilitäts- und Ernährungs-wende zu setzen. Der politische Hand-lungsdruck, schnell und konsequent die Erneuerbaren Energien auszubauen, aus den Fossilenergien auszusteigen und Treibhausgasemissionen zu senken, ist offensichtlich. Das sollte die Zivilgesell-schaft, die Wissenschaft und Unterneh-men viel stärker einfordern. Ebenso, dass diejenigen politische Entscheidungen treffen, die sich auskennen und dass sie eine progressive Politik umsetzen.
Quellen
[1] deutschlandfunk.de/der-cdu-vorsit-zende-merz-sieht-schnittmengen-mit-positionen-der-unionspartei-en-100.html
[2] washingtonpost.com/graphics/poli-tics/trump-claims-database/
[3] srf.ch/news/dialog/ueberschwem-mungen-in-spanien-extreme-nie-derschlaege-sind-zu-einer-konstan-ten-geworden
[4] dgs.de/news/en-detail/200924-vb-die-ehemalige-jahrhundertwetterla-ge-klimafakten-teil-1/
Tatiana Abarzúa