Das Wasserstoffdilemma
In Esslingen entsteht derzeit ein städtisches Quartier, welches etwa 550 Wohnungen, Büro- und Gewerbeeinheiten sowie einen Hochschulneubau mit einer Bruttogeschossfläche von insgesamt etwa 100.000 m2 umfasst. Herzstück des Projekts ist das Energiekonzept, das nicht nur einen hohen regenerativen Eigenversorgungsgrad für den Bedarf an Strom, Wärme, Kälte und Mobilität anstrebt, sondern zugleich – ganz im Sinne der nationalen Wasserstoffstrategie – einen Beitrag zum Aufbau einer „starke[n] und nachhaltige[n] inländische[n] Wasserstoffproduktion und Wasserstoffverwendung“ leisten will1). Das Vorhaben wurde als eines von sechs Leuchtturmprojekten in Deutschland ausgewählt, die von den Bundesministerien für Wirtschaft sowie für Bildung und Forschung gefördert werden. Der Kerngedanke besteht darin, eine Elektrolyseeinheit, die „Überschussstrom“ aus erneuerbaren Quellen in „grünen Wasserstoff“ wandelt, so in ein Nahwärmesystem einzubinden, dass die Abwärme der Elektrolyse für die Wärmeversorgung der angeschlossenen Gebäude genutzt werden kann.
Idee des Energiekonzepts
Eine Skizze der Energieflüsse zeigt Bild 12). Sie umfasst nicht das gesamte Quartier; der dargestellte Wärmebedarf in Höhe von 1.340 MWh lässt aber bereits auf einen sehr guten baulichen Standard der Gebäude schließen. Aus dem Gasnetz werden 1.390 MWh bezogen. Es dient einerseits der Deckung der thermischen Spitzenlast durch einen Gaskessel3), andererseits der Stromerzeugung in einem Blockheizkraftwerk (250 kWel, Stromkennzahl 0,8), welches sich auch für eine etwaige zukünftige Verstromung von Wasserstoff (H2) eignen soll. Die Stromversorgung wird darüber hinaus zu hohen Anteilen von selbst produziertem Solarstrom getragen. Dem Jahresbedarf in Höhe von 1.040 MWh stehen 660 MWh an solarem Eigenstrom gegenüber. Davon können 240 MWh direkt und weitere 320 MWh mithilfe eines zentralen Batteriespeichers (700 kWh) im Quartier genutzt werden. Lediglich 100 MWh werden ins vorgelagerte Netz eingespeist. Die Besonderheit besteht darin, dass eine Elektrolyseeinheit zur Erzeugung von grünem H2 aus erneuerbarem „Überschussstrom“ auf eine Weise in die Versorgung des Quartiers integriert ist, dass ihre Abwärme zur Deckung des Raumwärme- und Trinkwarmwasserbedarfs der angeschlossenen Gebäude beitragen kann.
Diese Idee fußt auf folgenden Überlegungen:
- Für die Umstellung auf eine erneuerbare Energieversorgung werden große Mengen H2 benötigt. Um in der Gesamtbilanz emissionsfrei zu sein, muss dieser aus erneuerbarem Primärstrom, also aus Strom hergestellt werden, der zuvor ohne den Einsatz von Brennstoffen aus Solar-, Wind- und Wasserkraft gewonnen wurde.
- Durch den unverzichtbaren Ausbau der Solar- und Windstromleistung werden zunehmend Leistungsspitzen auftreten, die von den konventionellen Stromverbrauchern nicht verwertet werden können. Dieser sogenannte „Überschussstrom“ könnte für die Erzeugung von grünem H2 herangezogen werden.
- Die Wandlung von Primärstrom in H2 geht mit Verlusten einher, die möglichst geringgehalten werden müssen. Durch die Nutzung der Abwärme aus dem Prozess der Elektrolyse für die Wärmeversorgung werden die Verluste reduziert und die Effizienz der H2-Gewinnung aus erneuerbaren Quellen wird gesteigert.
Diese Überlegungen leuchten zunächst ein. Tatsächlich kann nach derzeitigem Kenntnisstand die Energiewende ohne den Einsatz von „grünem H2“ nicht oder zumindest nicht vollständig gelingen. Vielmehr hat es sogar den Anschein, als würden „grüner H2“ und seine Derivate, wie strombasiertes Methan, Methanol, ggf. auch Ammoniak, sogar die wesentlichen Energieträger eines zukünftigen Energieversorgungssystems sein müssen, wenn es denn ein Energieversorgungssystem auf erneuerbarer Basis sein soll. Schließlich handelt es sich bei vier Fünfteln der Endenergie, die in Deutschland konsumiert wird, um Brennstoffe. Der Anteil von Strom beträgt dagegen nur etwa 20 % (s. Tabelle 1). Ähnliche Verhältnisse finden sich auch in anderen Ländern Europas. Einige Anwendungen, z. B. in der chemischen Industrie sowie in der Zement- und Stahlproduktion, sind zudem auf Brennstoffe angewiesen. Sogar die Stromerzeugung wird selbst in einem fortgeschrittenen Stadium der Energiewende nicht gänzlich ohne Brennstoffe auskommen, da Phasen von Dunkelflauten überbrückt werden müssen. Die Frage nach der Herkunft erneuerbarer Brennstoffe ist also von zentraler Relevanz für die Energiewende und umso dringlicher, als sich inzwischen abzeichnet, dass biogene Brennstoffe aus Nachhaltigkeitsgründen allenfalls einen sehr begrenzten Beitrag leisten können.
Das für eine erfolgreiche Energiewende notwendige H2 muss ebenso wie etwaige Kohlenwasserstoffe oder andere Brennstoffe, die daraus abgeleitet werden sollen, entweder in Deutschland aus Primärstrom gewonnen oder aber importiert werden. In beiden Fällen „schmerzt“ der geringe Wirkungsgrad der Brennstoffherstellung, zumal er nicht nur die Elektrolyse selbst betrifft. Auch die weiteren Schritte, die erforderlich sind, um H2 zu transportieren, zu lagern oder ihn zu Kohlenwasserstoffen weiterverarbeiten zu können, bringen zusätzliche Verluste mit sich4). Genau bei der Minderung dieser Verluste setzt das Konzept „Klimaneutrales Stadtquartier“ an:
„Durch die Abwärmenutzung zur Wärmeversorgung von Quartieren wird der Wirkungsgrad der Wasserstoffproduktion von rund 60 auf 90 Prozent gesteigert. Auch dies spricht dafür, den Wasserstoff in Deutschland zu produzieren und die Abwärme nicht in den sonnenreichen Wüsten der Mena-Staaten ungenutzt in die Umgebung abzugeben.“5)
Primärenergetischer Paradigmenwechsel
Der Gedankengang klingt plausibel, führt aber in die falsche Richtung. Der Irrtum beginnt damit, H2 für das tragende Element eines zukünftigen klimaneutralen Energieversorgungssystems zu halten und mit dem Bild vom „Öl der Zukunft“ anzupreisen. Die „neue Energiewelt“ auf Basis von Energie aus erneuerbaren Quellen wird jedoch keine „Wasserstoffwelt“, sondern eine „Stromwelt“ sein, genauer eine „Primärstromwelt“, in der die Energieversorgung von Strom aus erneuerbaren Quellen stammt. Diese kommt zwar nicht ohne H2 aus, sondern wird tatsächlich erhebliche Mengen benötigen, um sämtliche fossilen Energieträger verdrängen zu können. Aber dieser H2 ist kein primärer, sondern ein sekundärer Energieträger. Er muss aus Primärstrom gewonnen werden, um als „grüner Wasserstoff“ seinen Beitrag leisten zu können.
Im Gesamtprozess der Energiewende die fossilen und atomaren, teilweise aber auch die biogenen Brennstoffe zu substituieren, kommt H2 lediglich unterstützende Funktion zu, während Primärstrom aus Solar-, Wind- und Wasserkraft sektorenübergreifend als primärenergetische Basis eines erneuerbaren Versorgungssystems dienen muss. Von „Überschussstrom“ kann demzufolge erst dann sinnvoll die Rede sein, wenn die Energiewende in allen Sektoren des Energiesystems weitgehend abgeschlossen ist. Derzeit bilden jedoch noch immer fast ausschließlich Brennstoffe die Basis der Energieversorgung. Im aktuellen Energiemix (Bezugsjahr 2019, s. Bild 2) stehen 11.915 PJ an Brennstoffen (einschließlich biogener Brennstoffe und einschließlich von „Kernbrennstoffen“) als der „alten Primärenergie“ dürftige 691 PJ an „neuer Primärenergie“, also an Primärstrom aus Solar-, Wind- und Wasserkraft gegenüber.
Unbestritten gibt es bereits jetzt in einzelnen Netzabschnitten kurzzeitige Situationen, in denen die Primärstromernte den Momentanverbrauch übersteigt, also von den konventionellen Stromverbrauchern nicht vollständig genutzt werden kann9). Und solche Phasen werden mit dem weiteren Ausbau der Primärstromleistung an Dauer, Häufigkeit und Ausprägung fraglos zunehmen, sofern nicht auch die Nachfrageseite auf Strom als der neuen primären Energieform ausgerichtet wird. Die Ausrichtung aller Verbrauchssektoren auf die neue Primärenergie Strom ist entsprechend – neben dem Ausbau der Primärstromleistung selbst – die zentrale Herausforderung der Energiewende. Es geht dabei aber nicht um die Nutzung von „Überschüssen“, sondern darum, das Energiesystem so zu gestalten, dass möglichst keine Überschüsse entstehen. Denn nicht der gegenwärtige elektrische Leistungsbedarf ist die relevante Bezugsgröße für die angebotene Primärstromleistung, sondern der gesamte endenergetische Leistungsbedarf. Bisher allerdings reicht das Leistungsangebot aus Primärstrom nicht einmal annähernd an diesen Leistungsbedarf heran. Selbst die maximale gleichzeitige Netzeinspeisung von Wind- und Solarstromanlagen liegt aktuell mit 60.889 MW weit unterhalb der endenergetischen Gesamtlast, die im Mittel der vergangenen Jahre etwa 285.000 MW betrug. Dieses Verhältnis verdeutlicht auf der einen Seite die Dringlichkeit, die Solar- und Windstromleistung beschleunigt auszubauen, und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, die Verbrauchssektoren so zu gestalten, dass die gebotenen Leistungen effizient genutzt werden können.
Ungereimtheiten im Konzept
Zunächst stellt sich die Frage nach der Qualität des Netzstroms selbst, der derzeit im Quartier für die Herstellung von H2 herangezogen wird. Hierbei kann es sich kaum um Strom aus Solar- oder Windkraftanlagen handeln. Der Anteil der Erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch in Baden-Württemberg, einem Nettostromimporteur, liegt mit etwa 27 % (2021) deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Insbesondere Windstrom trägt mit deutlich weniger als 5 % zur Bedarfsdeckung bei. Notwendigkeiten, wegen eines Überangebots Windkraftanlagen abregeln zu müssen, bestehen entsprechend nicht. Insgesamt hat das Land lediglich einen Anteil von 0,2 Prozent der bundesweiten Ausfallarbeit durch Einspeisemanagement11). Im Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass für die H2-Erzeugung zu großen Anteilen Strom genutzt wird, der zuvor auf der Basis fossiler Brennstoffe gewonnen wurde. Die programmatische Nutzung von Primärstrom zur Herstellung von H2 ist allenfalls eine Zukunftsvision, für die aktuell mit erheblichen Emissionen, Ressourcen- und Exergieverlusten bezahlt wird.
Aber auch mit Blick auf die angestrebte primärstromdominierte Zukunft stehen der Strombedarf des Quartiers und die angenommenen Mengen an „grünem Strom“, die innerhalb des Quartiers in H2 gewandelt werden sollen, in einem Missverhältnis: Dem Stromverbrauch in Höhe von 1.040 MWh wird ein Angebot an „Überschussstrom“ von bis zu 4.990 MWh gegenübergestellt, davon 4.580 MWh Netzstrom und zwischen 100 und 410 MWh Strom aus den PV-Anlagen innerhalb des Quartiers. Das entspricht fast 50 kWh/m2 Strom der geplanten Bruttogeschossfläche. Selbst unter Einbeziehung des Wärmebedarfs (1.340 MWh) beträgt der gesamte Endenergiebedarf (ohne Mobilität) weniger als die Hälfte des Angebots an vermeintlichem „Überschussstrom“.
Die Elektrolyseeinheit hat eine elektrische Anschlussleistung von 1 MW und soll „netzdienlich“ betrieben werden, gleichzeitig soll sie jedoch eine Auslastung von 4.500 Volllaststunden im Jahr erreichen, was schwerlich vereinbar sein wird. Augenscheinlich ist die Elektrolyseeinheit vor allem auf eine hohe Gesamtleistung und -auslastung ausgelegt, bei gleichzeitig hohem ökonomischen Verwertungsgrad von Stromangeboten aus Ü-20-Windkraftanlagen. Für diese Annahme spricht, dass nach den vorliegenden Berechnungen nur etwa die Hälfte der Abwärme (600 MWh) im Quartier genutzt werden kann. Durch die Größe der Anlage ist immerhin ein signifikanter Deckungsgrad, etwa 50 %, gewährleistet. Tatsächlich klingt „eine Halbierung des Energiebedarfs für die Wärmeversorgung durch Abwärmenutzung“ nach einem großen Gewinn für die Energiewende, die „vollständige Verwertung vermeintlichen Überschussstroms“ für die „Herstellung unverzichtbarer erneuerbarer Brennstoffe“ ebenfalls. Faktisch bringt das Konzept für die angeschlossenen Verbraucher allerdings nur geringfügige energetische Vorteile im Vergleich zu einer konventionellen Strom- und Wärmeversorgung. Die aus dem Gasnetz bezogene Energiemenge würde ausreichen, den Wärmebedarf gänzlich ohne Abwärmenutzung aus der Elektrolyse mittels konventioneller Kesseltechnik zu decken. Und der Strom, der – unter Ausklammerung der 4.580 MWh für die Elektrolyse – aus dem vorgelagerten Netz bezogen werden muss, sinkt trotz der komplexen Anlagentechnik nur minimal von 800 auf 770 MWh.
Direkte Nutzung vor Wandlung in Wasserstoff
Doch über die Eignung des Konzepts für die Energiewende gibt ohnehin nur die umgekehrte Perspektive Aufschluss. Ausgehend vom Primärstromangebot muss die Gretchenfrage der Energiewende beantwortet werden: Wie steht es um die Effizienz der Primärstromnutzung? Da die Potenziale und die verbleibende Zeit zum Ausbau der Solar- und Windstromleistung limitiert sind und erneuerbarer Primärstrom auch mittelfristig Mangelware bleiben wird, muss der energetische Nutzen hinterfragt werden.
Im Konzept wird der angebotene Primärstrom mit einem Wirkungsgrad von etwa 60 % in H2 gewandelt. Die veranschlagte Produktionsmenge von 2.810 MWh lässt demzufolge auf 4.680 MWh Strom im Jahr schließen (4.580 aus dem vorgelagerten Netz sowie 100 MWh des solaren Eigenstroms), die für die Elektrolyse herangezogen werden. Zusätzlich zum gewonnenen H2 sollen 600 MWh Abwärme aus der Elektrolyse nutzbar sein, die entsprechend nicht mehr im Gaskessel erzeugt werden müssen. Unterstellt man für den konventionellen Wärmeerzeuger einen Nutzungsgrad von 90 %, lassen sich 667 MWh Brennstoffbezug vermeiden. Zusammen mit den 2.810 MWh an H2 können also insgesamt 3.477 MWh an fossilen Brennstoffen verdrängt werden. Das entspricht einer Gesamteffizienz von 74 %.
Wenn aber Strom aus Wind-, Solar- und Wasserkraft zur Verfügung steht, der für konventionelle Zwecke nicht benötigt wird, gleichzeitig aber – wie es auch das Konzept voraussetzt – ein Bedarf an Wärme gedeckt werden muss, könnte der Strom auch mithilfe einer simplen Widerstandsheizung in Wärme gewandelt werden, und zwar mit einem Wirkungsgrad von annähernd 100 %. Wiederum ausgehend von einem Wirkungsgrad eines üblichen Wärmeerzeugers von 90 % könnten fossile Brennstoffe auf diese Weise mit einer Effizienz von 111 % substituiert werden. Selbst wenn man sämtliche Probleme, Verluste und Kosten des gewonnenen H2 vernachlässigt, übertrifft die einfachste aller Lösungen die Effizienz der Brennstoffsubstitution durch die elektrolytische Wandlung des Primärstromangebots trotz der Abwärmenutzung um die Hälfte. Das gilt für dezentrale wie wärmenetzgebundene Situationen gleichermaßen.
Als Maxime für eine effiziente Transformation gebührt daher der direkten energetischen Nutzung von erneuerbarem Primärstrom – sofern möglich – gegenüber der Wandlung in H2 Vorrang. Das ist effizienter, in der Regel auch technisch einfacher und kostengünstiger. Die Tatsachen, dass mehr als 50 % des Endenergieverbrauchs auf thermische Anwendungen entfallen, diese noch zu fast 90 % über Brennstoffe gedeckt werden und dass der Brennstoffbedarf zur Bedienung thermischer Zwecke das Gesamtangebot an Primärstrom (Wind-, Solar- und Wasserkraft) um den Faktor sieben übersteigt, verdeutlicht die Maxime „Nutzung vor Wandlung“. Die Idee einer Verwertung von „Überschussstrom“ zur Brennstofferzeugung führt somit an den Erfordernissen der Energiewende vorbei.
Vorrang für Substitutionseffizienz
Selbst in Hochtemperaturprozessen, deren Temperaturniveau deutlich oberhalb der Abwärmetemperatur der Elektrolyse liegt (60 °C bis 65 °C), lässt sich der vermeintliche „Überschussstrom“ thermisch effizienter verwerten als durch Wasserstofferzeugung. Mit Blick auf Wärmebedarfe auf niedrigem Temperaturniveau ist die vorgeschlagene strombasierte Brennstofferzeugung mit Abwärmenutzung allerdings besonders unverständlich. So könnte eine Wärmepumpe bereits mit einer Jahresarbeitszahl (JAZ) von 3,5 das Primärstromangebot insgesamt mindestens um den Faktor 5 besser nutzen, als es im „klimaneutralen Quartier“ gelingt.
Auch im Bereich der Mobilität - im Konzept als möglicher Abnehmer des H2 genannt, ist die direkt Nutzung des Primärstroms die günstigere Option. Sie verspricht u. a. eine Steigerung der endenergetischen Effizienz gegenüber brennstoffbetriebenen Fahrzeugen mindestens um den Faktor 3. Das gilt nicht nur für die Individualmobilität. Auch der Kurzstrecken-Lieferverkehr kommt schon jetzt für die Elektrifizierung in Betracht. Selbst der straßengebundene Langstrecken- und Schwerlastverkehr könnte in Zukunft am besten batterieelektrisch erfolgen.
Vorsichtig und selbst unter Ausklammerung großer Teile des industriellen Prozesswärmebedarfs sowie des straßengebundenen Lastverkehrs eignen sich neben dem konventionellen Strombedarf mindestens 70 % des Endenergieverbrauchs, der bisher durch Einsatz von Brennstoffen gedeckt wird, entsprechend 56 % des gesamten Endenergieverbrauchs, für eine direkte Verwertung des Primärstroms bei gleichzeitiger Brennstoffsubstitution (Tabelle 1). Der Endenergiebedarf, der potenziell elektrisch gedeckt werden kann, übersteigt damit das realistische inländische Potenzial an Primärstrom aus Solar-, Wind und Wasserkraft etwa um den Faktor 2. Spielräume, inländische Primärstromangebote für die verlustreiche H2-Produktion zu vergeuden, gibt es demzufolge nicht.
Das unterstreicht die Notwendigkeit, neben dem beschleunigten Ausbau der Primärstromleistung die Endenergiesektoren so zu gestalten, dass sie das Angebot an Primärstrom direkt in Nutzenergie, bzw. in die nachgefragte energiebasierte Dienstleistung umsetzen können. Die Höhe der Substitutionseffizienz, die sich in den Sektoren erreichen lässt, zeigt dabei an, wo sich die größten Hebel bieten, die Energiewende und den Klimaschutz voranzubringen (Bild 3).
Höchste Priorität für die erfolgreiche Energiewende haben demnach die effiziente Elektrifizierung der Wärmeversorgung von Gebäuden über elektrische Wärmepumpen sowie die Umstellung der Individualmobilität auf elektrischen Strom. Demgegenüber ist die thermische Nutzung von Primärstrom auf hohem Temperaturniveau, insbesondere in gewerblichen und industriellen Prozessen ebenso nachrangig wie der weitere Ausbau elektrischer Speicher zum zeitlichen Ausgleich zwischen den Angeboten an Primärstrom und dem Stromverbrauch.15) Die Effizienz der Primärstromnutzung für die Wandlung in H2 und abgeleitete synthetische Brennstoffe fällt gegenüber allen übrigen Nutzungsmöglichkeiten deutlich ab.
Selbst zukünftig mögliche Steigerungen des Wirkungsgrades bei der Herstellung grünen H2, seiner Lagerung, seinem Transport und etwaiger Weiterverarbeitungen können das Effizienzdefizit gegenüber einer direkten Nutzung der „neuen Primärenergie“ zwar mindern, aber nicht wettmachen. Solange Möglichkeiten der direkten Wandlung von Primärstrom in einen energiebasierten Nutzen bestehen, ist es für den Erfolg der Energiewende daher kontraproduktiv, Primärstromangebote zur Produktion von H2 heranzuziehen, da er für effizientere Nutzungsoptionen nicht mehr zur Verfügung steht. Der Brennstoffbedarf für die Energieversorgung bleibt entsprechend höher, als er – bezogen auf das jeweilige Primärstromangebot – sein müsste, und es können weniger fossile Brennstoffe verdrängt werden. Die Erzeugung von grünem H2 verlängert die Abhängigkeit von Brennstoffimporten, steigert die Versorgungsrisiken und schadet dem Klimaschutz. Das gilt unabhängig davon, welchen Verwendungen der H2 zugeführt werden soll, also auch wenn er ausschließlich „no-regret“-Anwendungen, also Nutzungszwecken vorbehalten bleibt, die nicht durch direkte Elektrifizierung defossilisiert werden können, wie dem Flug- und Schiffsverkehr, der Stahl- und Zementproduktion und einigen Bereichen der chemischen Industrie.
Damit steht jedoch nicht nur das Energiekonzept des „Klimaneutralen Stadtquartiers Esslingen“ als Leuchtturmprojekt der Energiewende infrage, sondern die Nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung insgesamt, denn es zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma:
Einerseits ist die Energiewende auf grünen Wasserstoff angewiesen, um sämtliche fossilen Brennstoffe verdrängen zu können, andererseits wird durch seine Herstellung der effiziente Umbau der Energieversorgung behindert. Dieses Dilemma lässt sich nur teilweise durch den Import von grünem H2 und abgeleiteter synthetischer Brennstoffe durchbrechen, da auch potenzielle Lieferländer vor der analogen Herausforderung stehen, vorrangig die Defossilisierung ihrer eigenen Energieversorgung durch den Ausbau und die effiziente Nutzung von erneuerbarem Primärstrom voranzutreiben.
Aus diesem Grunde muss es vorrangig darum gehen, den verbleibenden Bedarf an Brennstoffen und damit die Notwendigkeit möglichst gering zu halten, grünen H2 überhaupt produzieren zu müssen. Neben dem Ausbau der Primärstromleistung und der Reduktion des Nutzenergiebedarfs in allen Sektoren und Lebensbereichen wird somit weniger eine Wasserstoffstrategie benötigt als eine Strategie zur Steigerung der Substitutionseffizienz fossiler Primärenergieträger durch die „neue Primärenergie“, nämlich durch Strom aus Solar-, Wind- und Wasserkraft.
Aus Platzgründen finden Sie die Quellen online in einer separaten Datei: https://bit.ly/H2-Dilemma
Dr. Rolf-Michael Lüking