Après Paris: Das 1,5° Dilemma
Teil 7 der Serie: Die Konsequenzen der Klimakonferenz von Paris. Das 1,5°C-Ziel des Pariser Klimaabkommens fordert Politik und Umweltbewegung heraus, ihre bisherigen Ansätze grundlegend zu überdenken. Als das sogenannte 1,5°C-Limit im Dezember letzten Jahres auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in den Vertrag von Paris aufgenommen wurde, war der Jubel groß im Lager der verletzlichen Staaten und ihrer Unterstützer aus der NGO- und Think-Tank-Szene. Das ist verständlich, denn wichtige Kipp-Punkte - etwa in Bezug auf das Abschmelzen des Eispanzers von Grönland oder das Verschwinden der Korallenriffe - könnten sonst überschritten werden und eine große Gruppe von Ländern massiv betroffen sein. Offen bleibt jedoch die Frage, wie diese Verschärfung der Ambition mit der realen politischen Situation in Einklang zu bringen ist und welche Risiken mit ihr einhergehen.
Große Hoffnungen geweckt
Seit langem ist eine Forderung der kleinen Inselstaaten und anderer vom Klimawandel besonders betroffener Länder, aber auch vieler Umweltgruppen und Wissenschaftler, die Grenze für "gefährlichen" Klimawandel von 2°C auf 1,5°C abzusenken. Unter anderem beruht die 1,5° C Grenze auf der Erkenntnis, dass nicht-lineare, ganze Kontinente betreffende Veränderungen des Klimasystems ab dieser Temperaturschwelle deutlich wahrscheinlicher werden. Dass nun die Forderung, den Anstieg der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu halten, und Anstrengungen zu unternehmen, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen tatsächlich Eingang in den Vertrag von Paris gefunden hat, hat bei vielen Beteiligten zu Tränen der Begeisterung geführt - und zu neuer Hoffnung, dass ihre Belange nun endlich von der Internationalen Staatengemeinschaft ernst genommen werden.
1,5 °C-Ziel: Ehrgeizig aber notwendig
Zwar sind die fossilen Emissionen 2014 und 2015 nicht mehr gestiegen - aber die bisher beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen hinterlegten nationalen Klimaschutzabsichten (NDCs) bis 2030 führen bei Fortschreibung und voller Implementierung nach bisherigen Schätzungen zu einer Erwärmung von etwa 2,5 bis 3°C, der Pfad zu 1,5°C wird mit diesen selbstauferlegten Zielen definitiv verlassen. Nicht nur angesichts dieser Diskrepanz rieben sich insbesondere die mit Klimaschutzstrategien befassten Wissenschaftler ob des Ergebnisses von Paris verwundert die Augen. Bereits zur Veröffentlichung des fünften Sachstandsberichtes des Weltklimarates IPCC im Jahr zuvor tobte eine wilde Diskussion darum, ob das 2°C-Limit überhaupt noch erreichbar sei. Dem Weltklimarat, der dies bejaht, wurde vorgeworfen, seine Ergebnisse auf unrealistische Annahmen sowie unausgereifte bzw. nicht-existente Technologien zu stützen. Und jetzt ein 1,5°C-Ziel? Wo zuvor schon das 2 °C-Limit von manchen für politisch tot, respektive technisch nicht machbar, erklärt wurde? Wie kann das gehen? Wissen denn die Delegierten, die Wissenschaftler, die das gefordert haben, und die NGO-Vertreter, was sie da beschlossen haben?
Jenseits aller Machbarkeits- und Kostendebatten ist es zunächst wichtig, die politische Wirkung des 1,5°C-Ziel anzuerkennen. Hier ist der Beschluss dieses Ziels an Bedeutung kaum zu überschätzen. Er zeigt, dass wissenschaftsbasierte Risikoanalyse nicht dem ökonomischen Kalkül der großen Emittenten geopfert wird. Er soll signalisieren, dass das Existenzrecht der kleinen Inselstaaten nicht zur Verhandlung steht und nicht zuletzt, dass das 2°C-Limit eine obere Schranke ist, die nicht erreicht werden darf. "Deutlich unter 2°C" schließt viele bisherige Pfade, die 2°C mit nur 50 Prozent Wahrscheinlichkeit oder mit einem deutlichen "overshoot" (also der längerfristigen Überschreitung von 2 Grad) erreichen, eigentlich aus. Es betont die Dringlichkeit sofortigen und umfassenden Handelns, und macht klar: Abwarten kann keine Option sein. Zugleich setzt die völkerrechtliche Verankerung des 1,5 bis 2 Grad-Limits auch eine Schranke, die im Fall des Scheiterns in Bezug auf Unterstützung und Kompensation für die besonders betroffenen Menschen und Staaten äußerst bedeutsam werden könnte.
Ohne Negativemissionstechnologien ginge es nicht
So begrüßenswert das 1,5°C-Ziel also sowohl aus politischer Sicht als auch vom Standpunkt der Risikominimierung und der Schadensbegrenzung für besonders betroffene Menschen und Staaten ist, muss aber doch die Frage gestellt werden, welche Konsequenzen sich aus diesem verschärften Anspruch ergeben. Nach dem sogenannten "Budget-Ansatz" besteht eine quasi-lineare Beziehung zwischen dem insgesamt seit der Industrialisierung ausgestoßenen Kohlenstoffdioxid (kumulative Emissionen) und dem globalen Temperaturanstieg im Klimasystem. Ausgehend von den Zahlen des IPCC dürften für eine Zwei-Drittel-Chance, die Erwärmung unter 1,5 Grad zu halten, ab 2016 global noch etwa 200 Mrd. t Kohlenstoffdioxid (200 Gt CO2) ausgestoßen werden. Gemessen an den heutigen Emissionen von jährlich knapp 40 Gt CO2 sind das noch etwa 5 Jahre. Sämtliche danach anfallenden Emissionen müssten durch die Verwendung sogenannter Negativemissionstechnologien wieder dauerhaft aus der Atmosphäre entfernt werden. Beim 2°C-Limit verbleiben bei gleicher Wahrscheinlichkeit immerhin noch etwa 800 Gt CO2. Verglichen mit dem 1,5° Budget gibt dies zwar mehr Spielraum, aber mitnichten Anlass zur Entspannung.
Denn schon die Annahmen, welche den derzeit diskutierten 2°C-Szenarien zu Grunde liegen, sind extrem ehrgeizig, was die Ausbaugeschwindigkeit von Erneuerbaren Energien, Effizienzgewinne und nicht zuletzt politische Umsetzung und globale Kooperation angeht. In vielen Modellen wird zudem eine weitreichende Nutzung der umstrittenen CCS-Technologie (Carbon Capture and Storage: Kohlendioxidabscheidung und Speicherung) zugrunde gelegt. Bei den 2°C-Szenarien des letzten Weltklimarat-Berichts sind dies zwischen 15 und 35 Gt CO2 im Jahr 2100, welche zunächst zur "klimafreundlichen" Nutzung fossiler Energieträger und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Neutralisierung von Prozess-Emissionen und zur Erzeugung negativer Emissionen eingesetzt werden.
Modelle und Szenarien
Nun kann man an den komplexen Computer-Modellen, die diesen Szenarien zugrunde liegen, vieles in Frage stellen: Inwiefern geben sie die möglichen Ausbaupfade bei Erneuerbaren Energien realistisch wieder, auch angesichts des für viele unerwartet starken Preisverfalls. Sind sie ökonomisch für die Problematik überhaupt geeignet; wie sinnvoll ist der Ansatz der globalen Kostenoptimierung; wird berücksichtigt, dass es nicht nur ein, sondern mehrere mögliche Gleichgewichte in einer komplexen Volkswirtschaft geben kann oder welche Möglichkeiten im gesellschaftlichen Wandel hin zu nachhaltigeren Konsummustern stecken?
Noch grundsätzlicher könnte man fordern, die Modelle müssten technologische oder gesellschaftliche Brüche miteinbeziehen, das Wachstumsparadigma überwinden bzw. Verteilungsfragen adressieren. Dies alles sind valide Punkte, die in der wissenschaftlichen Literatur und der politischen Öffentlichkeit mittlerweile ansatzweise diskutiert werden. An dem fundamentalen Problem, dass wir das CO2-Budget für 1,5°C so gut wie aufgebraucht haben, führt diese Debatte allerdings nicht vorbei. Das CO2-Budget ergibt sich aus grundsätzlichen, physikalischen Zusammenhängen im Erdsystem - und die sind weder von unserem Wirtschaftssystem noch von den ökonomischen Modellen abhängig. Solange es sich nicht herausstellt, dass die "transient climate response", also die vorübergehende Reaktion des Klimasystems auf kumulative CO2-Emissionen, in den IPCC-Klima-Modellen deutlich über- oder unterschätzt wird, sollten diese Zahlen relativ robust sein.
Werfen wir also einen kurzen Blick auf die bereits erwähnten sogenannten Negativemissionstechnologien, die für die gängigen 2°C-Szenarien ebenso bedeutend sind wie für die 1,5°C-Szenarien unumgänglich: Am breitesten diskutiert wird neben der Anreicherung von sogenannten Senken - also der Aufforstung, Wiedervernässung von Feuchtgebieten, Verbesserung des Humusgehalts landwirtschaftlicher Böden etc. - die Kombination von Bioenergie mit Kohlendioxidabscheidung und Speicherung (BECCS). BECCS wird in fast allen integrierten Modellen eingesetzt. Die dabei vorgesehenen Landflächen sind teilweise immens, und stehen in ihrer derzeitigen Form in Konkurrenz zu anderen Nutzungen, wie etwa Naturschutz oder Lebensmittelproduktion. Bei großmaßstäblichen Landnutzungsprojekten sind zudem oft Eigentumskonflikte zu befürchten, die Verdrängung von Kleinbauern oder Indigenen, steigende Bodenpreisen sowie Konflikte um den Zugang zu Wasser. Andere Negativemissionstechnologien, wie "direct air capture" (der Entzug von CO2 aus der Luft durch chemische Verfahren plus CCS), "enhanced weathering" (die Nutzung von Verwitterungsprozessen bei Gesteinen) oder Ozeandüngung weisen ebenfalls zum Teil erhebliche Risiken auf, sind aufwändig, unausgereift und teilweise sehr teuer. Gleichzeitig wirft auch die Speicherung des gasförmigen CO2 Probleme auf, welche die Akzeptanz vieler Orts in Frage stellen. Alternativ-Ideen wie etwa die Zucht von Algen zur Biomasseproduktion in großflächig in der Wüste aufgebauten Salzwasserbecken, oder die Nutzung von CO2 mittels einer solarbasierten Kohlenstofffaserindustrie (Carbon Capture and Use - CCU) und anschließender dauerhafter Lagerung des Kohlenstoffes in fester Form werden intensiv diskutiert, sind aber derzeit noch in ihren Anfängen. Eine nachhaltig umsetzbare Technofix-Option ist am Horizont derzeit nicht zu sehen.
Erneuerbare Energien alleine genügen nicht
Obwohl die Debatte um negative Emissionen nicht unbedingt neu ist, scheint sie sich nur sehr langsam ihren Weg in die Umweltbewegung zu bahnen. Oft entsteht der Eindruck, 100 Prozent Erneuerbare Energien würden alle Probleme lösen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich ist die globale Energiewende momentan - neben dem Stopp der Entwaldung in den Tropen - das dringendste politische Projekt zur Begrenzung des Klimawandels. Und erneuerbarer Strom wiederum ist die Voraussetzung für die Dekarbonisierung vieler anderer Sektoren wie Gebäude oder Verkehr. Den kostspieligen und politisch fatalen lock-in - also die langfristige Festlegung auf fossile Technologien aufgrund getätigter hoher Investitionen in langlebige Infrastruktur wie Kohlekraftwerke, Gaspipelines oder Ölplattformen, gilt es unbedingt zu vermeiden. Ähnliche Problematiken gibt es auch im Städte- und Straßen- sowie Flughafenbau.
Vermeidbare und Unvermeidbare Emissionen
Dabei sind die Herausforderungen für eine globale Wende im Energie- und Infrastrukturbereich gewaltig - selbst wenn die Industrieländer sich zu ehrgeizigen Dekarbonisierungsplänen entschließen würden: Es wird erwartet, dass in den nächsten 12 bis 15 Jahren etwa eine Milliarde Menschen vom Land in die Städte ziehen - etwa drei Viertel von Ihnen im globalen Süden. Gleichzeitig haben vor allem in Afrika und Südasien immer noch 1,2 Mrd. Menschen keinen Zugang zu Elektrizität, und 2,7 Mrd. sind auf traditionelle Biomasse zum Kochen angewiesen. Auch wenn die Investitionen in Erneuerbare Energien und Energieeffizienz weltweit stark zunehmen, wird dennoch gerade in schnell wachsenden Entwicklungs- und Schwellenländern zur Energieversorgung auch noch auf die etablierten und (vermeintlich) billigen fossilen Ressourcen gesetzt, insbesondere Kohle. Strategien für einen schnellen, globalen Kohleausstieg sind für die Pariser Klimaziele unerlässlich.
Die Verbrennung fossiler Energieträger ist derzeit für etwa zwei Drittel der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Es gilt aber nicht nur den Energiesektor, sondern sämtliche treibhausgas-intensiven Wirtschaftszweige und Gesellschaftsbereiche umzubauen - für das 1,5°C-Ziel innerhalb kürzester Zeit. Dabei gibt es Bereiche, in denen die Entstehung von Emissionen selbst mit 100% erneuerbarer Energieerzeugung nicht vermeidbar ist. Dies ist z.B. die Landwirtschaft, in der Methan und Stickoxide aus Düngung und Tierhaltung freigesetzt werden. Aber auch in bestimmten Industriebranchen gibt es sogenannte Prozess-Emissionen, die sich zumindest nach heutigem Kenntnisstand nicht vermeiden lassen, etwa in der Zement- oder Stahlherstellung. Für Deutschland machen diese einstweilen "unvermeidbaren" Emissionen zur Zeit etwa 14 bis 15% der Treibhausgasbilanz aus. Wenn also Klimaneutralität hergestellt werden soll, ohne bestimmte Aktivitäten grundsätzlich einzustellen, müssten solche Emissionen durch den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre ausgeglichen werden. Oder es müssen grundsätzliche Alternativen gefunden werden. Zum Beispiel beginnt gerade eine ernsthafte Diskussion dazu, ob beschichtete Kohlenstofffaser einen großen Teil der Stahlanwendungen ersetzen könnte.
Dynamischer Umbau unabdingbar
Um das 1,5°C-Budget nicht zu überschreiten, müsste eine beispiellose Umbaugeschwindigkeit an den Tag gelegt werden. Auch wenn es derzeit zur Überraschung vieler erste Anzeichen gibt, dass der globale Peak der Emissionen bald erreicht sein könnte - dies reicht bei langem nicht. Bei Annahme linearer Reduktion müssten die globalen Emissionen ab sofort kontinuierlich um 10 Prozent pro Jahr sinken - und dies bei zugleich steigender Weltbevölkerung, anhaltendem Wirtschaftswachstum und einem nicht unerheblichen industriellen Einsatz für den Aufbau einer erneuerbaren Infrastruktur. Selbst der Zerfall der Sowjetunion und der nachfolgende Zusammenbruch der dortigen Industrie führte in der entsprechenden Region zwischen 1990 und 1995 zu "nur" 5 bis 6 Prozent Emissionsrückgang pro Jahr. Im Gegensatz dazu liegen die höchsten je beobachteten langfristigen Reduktionen der Treibhausgasemissionen bei funktionierenden Volkswirtschaften in der Größenordnung von jährlich 1,5 bis 2 Prozent.
Selbst wenn durch die aktuellen Preis-Entwicklungen und Innovationen im Bereich Erneuerbare Energien und Effizienztechnologien eine größere Dynamik vorstellbar wird, zeigen diese Zahlen doch das enorme Ausmaß der Herausforderung, vor der wir stehen. Insbesondere wenn die mit der Dekarbonisierung der Wirtschaft verbundene gesellschaftliche Transformation mit angemessener politischer Partizipation und sozialer Abfederung einhergehen soll, wird dieser Prozess nach allem, was wir wissen, nicht in der gebotenen Schnelligkeit zu machen sein. Das heißt leider auch, dass die wünschenswerte Stabilisierung der globalen Erwärmung bei 1,5°C selbst im Falle einer globalen "Superenergiewende" kaum ohne die großmaßstäbliche Nutzung von Technologien zum Entzug von CO2 aus der Atmosphäre und dessen gasförmiger oder fester Lagerung zu haben sein wird. Wie gezeigt, bringen solche Negativemissionstechnologien jedoch ganz eigene Risiken mit sich. Eine Debatte um "1,5 vs. 2°C" ist dabei wenig zielführend, denn in beiden Fällen ist die anstehende politische Aufgabe die schnellstmögliche Umsetzung einer globalen Dekarbonisierung - sowie einer Strategie zur Eindämmung der anderen Treibhausgase. Diese Dringlichkeit wird mit dem Anspruch, die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C zu begrenzen, nur noch deutlicher. Trotzdem wird sich die Umweltbewegung früher oder später mit der Notwendigkeit negativer Emissionen auseinandersetzen müssen. Das gehört zur Redlichkeit, wenn man die Begrenzung auf 2, wenn nicht gar 1,5°C fordert, dazu.
Zum Weiterlesen:
- Carbon Brief November 2014
http://www.carbonbrief.org/six-years-worth-of-current-emissions-would-blow-the-carbon-budget-for-1-5-degrees
- UNFCCC (2016). Aggregate effect of the intended nationally determined contributions: an update. Synthesis report by the secretariat. FCCC/CP/2016/2
http://unfccc.int/resource/docs/2016/cop22/eng/02.pdf - Smith et al. 2015. Biophysical and economic limits to negative CO2 emissions. Nature Climate Change 6, 42-50
- Tollefson, J. 2015. Is the 2 °C world a fantasy?
http://www.nature.com/news/is-the-2-c-world-a-fantasy-1.18868
Dr. Gerrit Hansen