Meeresenergien
Die Kraft der Meere wird noch wenig genutzt: Wer an Wasserkraft denkt, denkt zuerst an Bäche, Flüsse und Stauseen. Doch das ist nur der kleinste, wenngleich zumeist nächste bzw. am leichtesten erschließbare Teil der Wasserkraft. Immerhin ist die Oberfläche unseres Planeten zu rund 70% mit Wasser bedeckt, wovon wiederum über 90% aus Meeren bestehen. In und auf diesen Meeren gibt es - vor allem angetrieben durch die Kraft der Sonne - ungeheure Mengen an Erneuerbaren Energien, die sich teilweise nutzen lassen. Diese Energiequellen werden wir im Zuge der Klimakrise künftig verstärkt in Anspruch nehmen müssen. Heute beträgt der Anteil der Meeresenergie an den Erneuerbaren Energien weltweit gerade einmal 0,02 %, in Deutschland ist er gleich Null. In Europa gibt es zwar von Seiten der EU einige Projekte zur Förderung der "Blauen Energie", mit dem European Marine Energy Centre (EMEC) auf den Orkney-Inseln/Schottland sogar ein eigenes Testzentrum, und mit Ocean Energy Europe auch einen europäischen Meeresenergie-Verband. Aber das Techniksegment tut sich angesichts der fortgesetzten Förderung fossiler Energien schwer, zumal selbst zuständige Regierungsstellen nicht immer in der Lage sind, Techniken wie Gezeitenkraft und Wellenkraft auseinander zu halten.

Auch wenn der Propeller hier durch den Flügel verdeckt ist: das Unterwasserflugzeug Deep Green von Minesto erntet die Energie der Meeresströmung, indem es waagerechte Achten „fliegt“, Quelle: Minesto AB

Auf dem Meeresgrund stehend: die Strömungsturbine Sabella D10. Anders als bei Windkraftanlagen sind Rotorachse und Rotorblätter in ihrer Ausrichtung nicht drehbar, Quelle: Sabella SAS

Die schwimmende Gezeitenturbine Orbital 02 mit einer Leistung von 2 MW, Quelle: Orbital Marine Power

Die Arme der Verstell-Propeller lassen sich nach oben klappen; würden sich auch für Schiffe eignen, Quelle: Orbital Marine Power

Schwimmender Wellenkonverter Nemos: ein Prototyp wird gerade vor der belgischen Küste getestet, Quelle: Nemos GmbH

Schwingfl osse des auf dem Meeresboden verankerten WaveRollers bei der Montage, Quelle: AW-Energy Oy
Grundsätzlich gibt es vier verschiedene Ernteverfahren für die Energien des Meeres: OTEC (Ocean thermal energy conversion), Osmosekraftwerke, Gezeiten- bzw. Meeresströmungs-Kraftwerke sowie Wellenkraftwerke.
OTEC (Ocean thermal energy conversion)
Diese Meereswärmekraftwerke nutzen den Temperatur-Unterschied zwischen warmem Oberflächenwasser und kaltem Tiefenwasser, um über einen ORC-Kreislauf eine Turbine anzutreiben und so Strom zu erzeugen. Zwar ergäbe sich nach EU-Angaben hier ein Strompotential von 83.340 TWh/Jahr (Weltstromverbrauch 2017: 21.372 TWh), doch es gibt Probleme: wegen des benötigten Temperatur-Unterschieds von rund 20 K sind solche Kraftwerke nur im sehr warmen Oberflächengewässer der Meeresgebiete zwischen dem südlichen und nördlichen Wendekreis der Erde einsetzbar. Auch muss das kalte Wasser aus Meerestiefen von über 500 m in einer Leitung herauf gepumpt werden, was die Energieausbeute dieser grundlastfähigen Kraftwerke erheblich senkt und sie zudem teuer macht. Daher ist die Großtechnik bisher über einige Experimentalkraftwerke im Pazifik, unter anderem auf Hawaii, nicht hinausgekommen.
Osmosekraftwerk
Diese Technik nutzt den unterschiedlichen Salzgehalt zweier Flüssigkeiten, die durch eine halbdurchlässige Membran voneinander getrennt sind. Diese Membran hält zwar das Salzwasser zurück, lässt aber das Süßwasser durch. Da miteinander in Verbindung tretende Lösungen dazu tendieren, ihre unterschiedlichen Konzentrationen auszugleichen, erfolgt ein kraftvolles Einströmen des Süßwassers in das Salzwasser, das man über verschiedene Techniken nutzen kann. Entscheidend sind große Salinitätsunterschiede, große Wassermengen und große Membranen.
Solche Kraftwerke sind deshalb nur dort sinnvoll, wo große Mengen reinen Süßwassers aus Flüssen auf salziges Meereswasser treffen - wie z.B. in Norwegen am Oslofjord oder am Absperrdeich des IJsselmeers, wo es in der Tat auch Pilotprojekte gibt. In Deutschland käme nur die Elbmündung in Frage, wobei man wegen des Tidenmischwassers im Unterlauf der Elbe diesen Flussteil mit einer großen Wasserleitung überbrücken müsste. Die Baukosten sowie der Energieverbrauch der Pumpen würden ein solches Kraftwerk unrentabel machen.
Gezeiten- /Meeresströmungs-Kraftwerk
In diesem Segment gibt es grundsätzlich drei verschiedene Einsatzformen: landgebundene, auf dem Meeresgrund stehende und schwimmende Anlagen.
Große landgebundene Speicher-Anlagen, wie das an der Mündung der Rance beim französischen St. Malo, gibt es inzwischen in einigen Teilen der Welt, u.a. in Südkorea. Sie benötigen einen möglichst großen Tidenhub und große Tidenbereiche, die sich durch einen Staudamm mit integrierten Turbinen vom Meer absperren lassen. Zu den hohen Baukosten kommen die Wartungskosten wegen Schlickablagerungen und Korrosion, sowie die ökologischen Folgekosten durch Änderungen der Strömungen, Meereslebewesen-Gemeinschaften etc. Daher ist es nicht überraschend, dass man das bisher größte Projekt, die Severn Barrage mit einer 16 Kilometer langen Staumauer zwischen Bristol und Cardiff, aufgegeben hat, obgleich die geplante installierte Leistung von 8.500 MW den Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point (3.200 MW) energiepolitisch überflüssig gemacht hätte. Stattdessen baut man das wesentlich kleinere Kraftwerk in der Swansea Bay (320 MW). Obgleich man bei diesen Gezeitenkraftwerken meist von einem Mindest-Tidenhub von 5 m ausgeht und die deutsche Nordseeküste gewöhnlich weniger als 3 m bietet, hat es auch hier entsprechende Projekte gegeben: neben den frühen historischen Gezeitenmühlen in Hamburg, Horneburg und weiteren Orten im Tidegebiet der großen Flüsse baute der Ingenieur Emil Pein 1912 erstmals ein Flutkraftwerk in Husum, was aber durch Sturmfluten beschädigt und wegen des 1. Weltkriegs nicht weiter verfolgt wurde. Spätere Konzepte wie das vom Ingenieur Heinrich Büggeln 1930 in der Gemeinde Groden/Unterelbe, wie das vom Mühlenbauer Carl Becker 1950 zwischen Cuxhaven und Bremerhaven, und wie das Gezeitenkraftwerk Jadebusen um 1965 verblieben in den Schubladen - wohl auch, weil Kohle und Öl so billig waren.
Auf dem Meeresgrund stehende Energiewandler nutzen ohne künstliche Speicher-Anlagen einfach die natürlichen Meeresströmungen - d.h. tideninduzierte Strömungen, nicht Teile des globalen maritimen Strömungssystems wie etwa den Golfstrom. Wie bei der Offshore-Windkraft werden diese Anlagen mit schweren Füßen/Pods auf den Meeresboden gestellt oder dort mit ihren Pfeilern eingerammt/eingespült. Ebenso gibt es auch hier unterschiedliche Rotorkonzepte: einerseits im Stil der klassischen Windkraftanlagen wie u.a. die Unterwasser-Turbine Sabella D10 der Firma Sabella SAS aus Quimper/Frankreich oder die seit 2008 erfolgreich betriebene und inzwischen abgebaute SeaGen in Nordirland. Andererseits sind aber auch ummantelte Rotoren wie die der insolventen Firma OpenHydro, und Querströmungsturbinen wie die des Tid-Gen-Systems der US-Firma Ocean Tidal Power Company derzeit nicht in Gebrauch. Auch Reihen von Turbinen mit vertikaler Achse (Tidal fences) wären denkbar, kommen aber derzeit nicht zum Einsatz. Auf Vorbilder der fliegenden Windenergie (Airborne Wind) geht das kabelgebundene Unterwasserflugzeug "Deep Green" der schwedischen Firma Minesto zurück. Generell sind die Rotoren hier kleiner als bei der Windenergie, da Wasser eine rund 800mal höhere Dichte hat als Luft.
Schwimmende Meeresströmungs-Kraftwerke werden in den letzten Jahren immer häufiger. Hierzu gehören u.a. das BlueTEC Texel-Projekt der niederländischen Firma Bluewater, die PLAT-I (PLATform for Inshore energy) der Sustainable Marine Energy (Canada) Ltd., oder das Floating Tidal Energy Commercialisation (FloTEC)- Projekt von Orbital Marine Power. Alle diese schwimmenden Kraftwerke sind ebenso wie die auf dem Meeresboden stehenden auf ein Stromkabel zum Land und darüber hinaus auf einen Anker angewiesen.
Wellenkraftwerk
Wellenkraftwerke (WeKWs) sind in ihrem Energie-Ertrag u.a. von Wellenhöhe und Wellenlänge in ihrem jeweiligen Einsatzgebiet abhängig. Dazu kommt die Effizienz der zur Energieernte eingesetzten Techniken. Auch wenn für diesen Bereich die Windkraft-Konzepte nicht mehr beispielgebend sind, so finden sich auch hier die entsprechenden Standort-Typen wie bei der Gezeitenkraft.
Landgebundene Wellenkraft-Anlagen werden vor allem an Küsten errichtet, die unterhalb des Meeresspiegels ein relativ stark abfallendes Relief haben. Dies ist in deutschen Gewässern allenfalls auf Helgoland der Fall. Doch gibt es mit den an Molen und Kaimauern befestigten Hydraulikzylindern der bayerischen Firma Sinn Power GmbH auch Ausnahmen. Weiterhin gibt es die OWC-Technik (engl.: Oscillating Water Column), bei der die steigende Wassersäule einer Welle in einem Betonbauwerk die darüber liegende Luft durch eine doppelwirkende Turbine drückt und die Luft beim Absinken der Säule wieder ansaugt. Eine solche 300 kW Anlage wurde von Voith Hydro in der spanischen Hafenstadt Mutriku zwischen Bilbao und San Sebastian errichtet. Hierzu könnten auch Bauwerke mit der Technik des WaveDragon-Konzepts kommen, bei dem die Wellen die Anlage überspülen. Dieses Wasser wird dann in einer Art Pool oben auf dem Gebäude gesammelt, um anschließend, wie in einem Gezeitenkraftwerk bei Ebbe, eine Turbine anzutreiben. Bis auf das Sinn-Power-Konzept, das vorhandene Infrastruktur nutzen kann, erfordern alle Anlagen einen hohen Fertigungsaufwand.
Auf dem Meeresgrund stehende Wellenenergie-Konverter sind u.a. der Drakoo von Hann Energy/Singapur, der WaveRoller von AW-Energy Oy/Finnland oder die CX2-Energieboje der HAB GmbH/Wusterhausen.
Schwimmende WeKWs gibt es in den verschiedensten Formen: als Bojen wie der PB3 von Ocean Power Technologies/New Jersey und der Konverter von CorPower Ocean/Stockholm, als Pontons wie von der Nemos GmbH/Duisburg, als Seeschlange wie die Pelamis von Pelamis Wave Power/Edinburgh oder der Konverter der Sea Wave Energy Ltd/London.
Größere schwimmende Wellenkraftwerke wie die Wavegem-Plattform der französischen Geps Techno können Inseln mit Strom versorgen - aber auch Bohrinseln! Es gehört zu den weniger erfreulichen Aspekten mancher EE-Techniken, dass auch die fossile Energietechnik davon profitiert. Andererseits sind die nicht landgebundenen WeKWs besonders dafür geeignet, in oder neben Offshore-Windparks eingesetzt zu werden, weil das die Netzanbindungskosten erheblich reduziert.
Einsatzgebiete
Während sich bei den großen, mit Speichern ausgestatteten Gezeitenkraftwerken die Jahreserträge sehr gut abschätzen lassen und auch die auf dem Meeresboden verankerten Meeresströmungs-Kraftwerke, von möglichen technischen Problemen abgesehen, sehr verlässlich liefern, sind insbesondere die Wellenkraftwerke in ihrer Leistung naturgemäß stärker von Wind und Welle an ihrem jeweiligen Standort abhängig. Daher kann es bei den Erträgen, insbesondere in Zeiten des sich ändernden Klimas, zu Überraschungen kommen. Solche Unsicherheiten spielen eine gewichtige Rolle bei einer Technik, die ihre Lernkurve bei den Produktionskosten noch weitgehend vor sich hat.
Neben den geographischen Einsatzgebieten gibt es auch noch ein technisches: die gesamte motorisierte Schifffahrt muss schnell nachhaltig werden. Wer dabei nicht nur hochspekulativ ausschließlich auf Power-to-X-Kraftstoffe setzen will, kommt in diesem Segment um Sonne, Wind und Wellen nicht herum. Dass so etwas grundsätzlich funktioniert, zeigen nicht nur das inzwischen erfolgreich getestete Wave-Glider-Konzept von 2010 und die Hawaii-Japan-Fahrt von Kenichi Horie mit der nur durch Wellenkraft angetrieben Suntory Mermaid II in 2008, sondern auch das Konzept "E/S Orcelle", eines 250 Meter langen Autotransporters, von der schwedisch-norwegischen Reederei Wallenius-Wilhelmsen. Zudem gäbe es sowohl für die motorisierte Berufsschifffahrt als auch für motorisierte Sportboote die Möglichkeit, beim Ankern und Festmachen in der Strömung entsprechende Strömungs-Generatoren abzusenken, wie wir sie oben bei den schwimmenden Meeresströmungs-Kraftwerken gesehen haben. Manche Segelyachten haben diese Technik dagegen schon lange: Schlepp- oder Antriebswellen-Generatoren, um die Schiffsakkus beim Segeln wieder aufzuladen.
Götz Warnke