Unser Handeln kann viel länger überleben als wir
Angesichts der gesamtökologischen Lage besteht nur wenig Hoffnung für eine Zukunft der auf dem Planeten Erde lebenden Spezies, inklusive des Menschen. Zu weit haben wir die Gleichgewichte verschoben, zu sehr eingegriffen und manipuliert. Rein rational betrachtet ist nicht mehr viel Spielraum, da offensichtlich zu wenig Einsicht in die Konsequenzen dieses Handelns oder auch zu wenig Einfluss des Einzelnen besteht. Mit dieser aus der Rationalität erwachsenden Konsequenz zu leben fällt nicht unbedingt leicht. Aber fernab von Fatalismus und Resignation gibt es auch andere Ebenen, die noch Möglichkeiten bieten. Das sind unsere Kreativität, unsere Zuversicht und unser Wille. Offenbar werden diese Stärken im Moment vermehrt genutzt um uns in einer anderen Katastrophe über Wasser zu halten. Denn nichts, so macht uns Corona deutlich, muss so bleiben wie es ist.
Sharing
Es folgt eine gute Nachricht: Ein Stück des norwegischen Jazzmusikers und Pianisten Bugge Wesseltoft aus dem Jahr 1998 hat eine einfache Botschaft. Der Text von „Sharing“, einem im House-Stil aufgenommenen Electronic-Jazz Stück, lautet:
Once upon a time there used to be another way of living
Once upon a time there used to be another way of thinking
Once upon a time there used to be another way of sharing
Somewhere there is another way of living
Somewhere there is another way of thinking
Somewhere there is another way of sharing
Someday there will be another way of living
Someday there will be another way of thinking
Someday there will be another way of sharing
Das muss man gar nicht groß übersetzen, so klar ist die Aussage: Wesseltoft singt davon, dass es einfach eine Zukunft gab, gibt und geben wird, die auf einer anderen Art des Lebens, Denkens und Teilens beruht. Er geht gar so weit, dass dies nichts Neues ist, sondern, dass es all dies bereits einmal gegeben hat oder
gar noch gibt. Wir müssen lediglich wieder, nach Möglichkeit in unserer Gesamtheit, dorthin zurückfinden. Es ist nicht unmöglich oder gar undenkbar, vielmehr leben wir nur momentan in einer Zeit, in der das nicht angesagt ist und auch nicht angestrebt wird.
Es ist eine positive Botschaft, die für uns alle eine Chance für eine gemeinsame Zukunft ermöglicht. Das Gemeinsame, ein Grundprinzip unseres Zusammenlebens, das uns als soziale Wesen im Prinzip auch ausmacht, muss wiederentdeckt werden. Das kurzsichtige und egoistische Denken muss verdrängt und mit Hilfe der großen Vorteile, die uns eine solidarische Lebensweise bietet, abgeschafft werden.
Widerstände
Ja, klar, das sagt sich so einfach, denn die Besitzstandswahrung ist eine mächtige Hürde, im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie ist auch mächtig im profanen materiellen Sinn. Machtlos sind aber die an Zahl immer mehr werdenden, weniger Privilegierten nicht. Wenn man bedenkt, dass das System der Abhängigkeiten immer mehr darauf angewiesen ist, dass genau die für dessen Unterhalt sorgen müssen, welche am wenigsten davon profitieren, dann ist ein System, das auf Ausbeutung globaler und humanitärer Ressourcen beruht, mittel- bis langfristig zum Scheitern verurteilt.
Abhängigkeiten
Und oftmals sind die Abhängigkeiten derart profan, dass sie schon wieder übersehen werden. So werden die Menschen bei Laune gehalten, indem sie sich selbst ausbeuten. Frei nach Richard David Precht: Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen, mit Geld, das wir nicht haben.
Dazu passt auch sehr gut, was Jürgen Dahl bereits 1971 geschrieben hat: „Dass die Volkswirtschaft von der Autoindustrie abhängig sei, weil jeder zehnte von dieser Industrie lebt, ist ja in Wahrheit gar kein Argument für ihr Florieren, sondern müsste im Gegenteil der ernste Anlass sein, auf eine Reduzierung zu drängen - denn nichts erscheint gefährlicher, als dass das Wohlergehen der Bundesrepublik von einer Industrie abhängt, und noch dazu von einer solchen, die Fahrkabinen herstellt, und die, bei einem Bestand von rund 15 Millionen Personenwagen und einer jährlichen Neuproduktion von rund einer Million, bereits ruiniert wäre, wenn die Hälfte aller Neuwagenkäufer sich entschlösse, den alten Wagen noch ein Jahr zu fahren.“
Individualität
Das macht deutlich auf welch tönernen Füßen diese Abhängigkeiten stehen, die von breiten Schichten stets vehement verteidigt werden. Ganz nach dem Motto: Wenn wir untergehen, dann gemeinsam, wir haben diesen Weg eingeschlagen und gar keine Zeit und Muße uns über eine Alternative Gedanken zu machen. Visionen werden als naiv und fantastisch abgekanzelt, Menschen, die etwas ändern wollen, als ahnungslose Spinner abgetan, die anscheinend die Zusammenhänge gar nicht verstehen.
Hier liegt auch der „Hase im Pfeffer“: Ein Verständnis für die Komplexität wird mit der Notwendigkeit, diese Struktur aufrecht zu erhalten, verwechselt. Oft ist man so sehr in seinen Zwängen verheddert, dass man gar nicht mehr aus dem Dickicht herausschauen kann. Durchaus tragisch: Man merkt gar nicht mehr, wie weit man bereits mental anhängig geworden ist. Es ist nicht leicht zu realisieren, wie sehr man der Droge des Materialismus erlegen ist und glaubt, genau mit dieser sich zum Individualisten zu machen. Exklusive Mode und Konsumgüter suggerieren, den eigenen Stil zu unterstreichen, obwohl sie das natürlich genau nicht machen. Der freie Wille bleibt auf der Strecke, auch wenn man sich im Wettbewerb der Individualität
genau das vormacht. Sagt der eine zum anderen: „Ich bin individuell!“ Darauf der andere „Ich nicht!“.
Auch wenn wir ansonsten ja gerne als Menschen zur Überheblichkeit neigen und uns eine Krone aufsetzen, machen wir uns beim Handeln oft kleiner als wir sind. Wer, wenn nicht wir, kann etwas ändern. Oder anders herum: Wir müssen etwas tun, weil nur wir es können.
Matthias Hüttmann