Reden ist Silber, Schreiben ist Gold
Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir in verbale Bedrängnis geraten. Das gibt es im privaten Umfeld genauso wie in der öffentlichen Debatte. Ein Grund des Dilemmas ist dabei häufig, dass verlangt wird, eine kurze und schnelle Antwort auf eine komplexe Frage abzuliefern. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, schließlich verfügen wir alle über ein Bauchgefühl, mit dem wir oftmals gar nicht so falsch liegen. Damit kommen wir jedoch nicht immer ans Ziel.
Problematisch wird es daher, wenn eine differenzierte Replik nicht akzeptiert wird und an einem Diskurs keinerlei Interesse besteht. Wenn nur Schwarz-Weiß-Betrachtungen wahrgenommen werden wollen, weder Zeit noch Geduld vorhanden sind und kurze Antworten auch noch auf die Goldwaage gelegt werden, fühlen wir uns persönlich oft in die Enge getrieben und vermeiden das Gespräch womöglich gänzlich. Es gibt aber auch das andere Extrem: Antworten ohne Punkt und Komma, die sich in Abschweifungen verirren, das Thema verlieren und sich so jeder Aufmerksamkeit berauben. In dem Fall werden, mehr oder weniger elegant, Fragen einfach nicht beantwortet, so dass diesen, meist männlichen, Selbstdarstellern das Wort entzogen werden muss.
Hart aber unfair
Diese beiden Phänomene sind oft in sogenannten Fernsehdebatten zu beobachten. Dort wird immer weniger versucht, konstruktiv zu streiten, vielmehr möglichst die Konfrontation gesucht. Diese Formate sind als solches nichts komplett Neues und demzufolge schon lange reine Verschwendung von Lebenszeit. Was das Ganze jedoch problematisch macht, ist die Verstärkung speziell der reduzierten Botschaften, speziell in sozialen Medien. Dort werden gerne Fragmente geteilt. Die Floskel „das ist aus dem Zusammenhang gerissen“ könnte einem Gros dieser sogenannten Memes als Warnhinweis angeheftet werden. Leider schwappt durch die zunehmende Nutzung solcher Plattformen eine Erwartungshaltung in alle unsere Lebensbereiche hinein und wir verlieren zunehmend unseren Sinn für abwägendes Denken. Paradoxerweise geht das einher mit immer komplexeren Problemstellungen. Und einfache Antworten auf schwierige Zusammenhänge, das war noch nie ein guter Ansatz.
Schreibtherapie
Aus allen diesen Erfahrungen heraus ist das Nachdenken über Zusammenhänge und die Niederschrift von geistiger Arbeit ein hilfreiches Mittel. Auch wenn die Flucht in das Schriftwerk in gewisser Weise auch als eine Absage an eine verbale Auseinandersetzung gewertet werden kann, ist sie das keineswegs. Denn es liegt auch daran, dass die Kultur, sich mit längeren Texten auseinanderzusetzen, abnimmt. Vielmehr drohen wir im Fahrwasser von Messangerdiensten oder Twitterregularien, die uns maximal 280 Zeichen gestatten, zu verrohen. Dabei verlieren wir vor lauter Multitasking und dem Bestreben nach einer wachsenden Fähigkeit, schnell „umschalten“ zu können, immer mehr an Aufmerksamkeit.
So gibt es mittlerweile die abstrusesten Auswüchse, die verdeutlichen, wohin wir uns momentan bewegen. Exemplarisch dafür steht eine App, die nicht benannt werden muss, welche aber offensichtlich an Bedeutung gewinnt. Sie verspricht „Mehr Wissen in weniger Zeit“. Sie befreit uns vom lästigen Lesen von Büchern, in dem sie „Sachbücher auf den Punkt bringt“ und „in 15 Minuten Kernaussagen“ zur Verfügung stellt. Diese App ist einfach verlockend. Mit ihr lässt sich gewaltig Zeit sparen. Glaubt man den Aussagen ihrer Programmierer, können wir mit ihr dank Wissensgewinn erfolgreicher werden, besser erziehen, gesünder und glücklicher leben – und das ist die Krönung: besser kommunizieren! Aber was versprechen uns die Silicon-Valley-Heilsbringer nicht schon alles zur Selbstoptimierung. Ein anderes leicht gruseliges Beispiel: die neuen KI-Chatbots. Die elektronischen Daseinsformen können für uns Texte verfassen, womit wir nochmals mehr Zeit gewinnen. Ein wahrer Segen!
Genügsam ist das neue Nachhaltig
Nur was machen wir mit all der Zeit, die wir gewinnen und einsparen? Ganz wichtig – nur nicht langweilen und auf keinem Fall dem Müßiggang frönen. Denn das wäre unproduktiv. Das Credo lautet vielmehr: Selbstoptimierung! Mit ihr steigern wir unsere Leistung, die sich dann auch lohnt, wie uns gerne weißgemacht werden soll. Die Definition des Müßiggangs klingt eigentlich verlockend: „das Aufsuchen der Muße, das entspannte und von Pflichten freie Ausleben, nicht die Erholung von besonderen Stresssituationen oder körperlichen Belastungen. Er geht z. B. mit geistigen Genüssen oder leichten vergnüglichen Tätigkeiten einher, kann jedoch auch das reine Nichtstun bedeuten.“ Nur ist das alles andere als en Vogue. Ein solches Tun ist weder Instagram-kompatibel, noch in knackigen Worten zu beschreiben, und stellt auch keine Aufwertung des eigenen Status dar.
Denn was bei einem solchen Müßiggang passieren kann, ist gefährlich für unsere Wachstumsdoktrin. Wir könnten darauf kommen, dass wir eben nicht noch mehr Güter brauchen, um Lebensqualität oder, wie es gern falsch konnotiert wird, Wohlstand zu erlangen. Eine wirkliche Steigerung eines materiellen Wohlstands ist schon lange nicht mehr möglich, längst raubt uns genau dieses Materielle vieles, was uns eigentlich am Herzen liegt. Wir lassen uns täuschen und glauben zunehmend an die Illusion eines grünen Wachstums. Dazu schreiben heute alle Institutionen und Unternehmen ihre Satzungen um und modifizieren ihre Unternehmensziele. Ganz weit vorne dabei ist die Betonung der Nachhaltigkeit. Papier ist geduldig und Ziele sind schnell formuliert. Was hier passiert ist jedoch die größte Greenwashingkampagne aller Zeiten.
Dank dieser Gehirnwäsche verlieren wir leicht eine wesentliche Erkenntnis aus unserem Blick: Die Verantwortung am eigenen Konsum. Sich hinter der Marktwirtschaft zu verstecken, ist genau genommen verlogen und opportunistisch. Denn auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Das neue Auto wurde für uns ganz persönlich hergestellt, und der Flieger düst genau wegen uns irgendwohin. Dieser Selbstbetrug funktioniert im Übrigen besonders gut, indem wir auf längere Antworten verzichten, und das, obwohl wir eigentlich dank der vieler kleinen Helferlein stetig Zeit dazugewinnen.
Matthias Hüttmann